Donnerstag, 7. November 2013

"Das Rettungsboot" / "Lifeboat" [USA 1944]


Hitchcocks Traum war es, einen Film in einer Telefonzelle spielen zu lassen. Und wer, wenn nicht er, könnte es aller Zweifel zum Trotz spannend, ja regelrecht hochspannend gestalten – der konvulsivisch zuckende Telefonhörer, seine schneidende Melodie, der gläserne Käfig, vieldeutige Blicke der Öffentlichkeit und die absolute Hingabe zur Unabwendbarkeit. Seinen innigen Wunsch konnte sich Hitchcock bis zuletzt nicht erfüllen (auch wenn das Telefon in "Bei Anruf Mord" sein sekundenkurzes Prestige mehrmals in majestätischer Großaufnahme erhielt), dafür aber die formalen Rahmenbedingungen des Erzählinhalts hin und wieder soweit entschlacken, dass die Telefonzelle, dieser irrwitzige Rückzugsraum, jetzt ohnehin greifbar nahe, ein logischer Höhepunkt gewesen wäre, mit der sich Hitchcock – selbstverständlich per Galgenhumor – beschäftigt hätte.   

Das stückweise Herantasten dahin umschließt "Das Rettungsboot", denn Hitchcocks filigran auspsychologisierter Kampf gegen die Natur (des Menschen) verzichtet auf Musik, Ortswechsel und großtuerischen Budenzauber, und er gehört außerdem zu jenen Hitchcocks, deren Rhythmus mit chirurgischer Genauigkeit einer gegenteiligen Befehlsgewalt unterliegt: Statt vorauszuplanen lauscht der Filmemacher den Charakteren, einem "Mikrokosmos des Krieges", das Ensemble eines Tableaus, haarklein durchsetzt von intimem, gedämpftem, fabulierendem Lagerfeuerplausch. Augenscheinlich thematisiert "Das Rettungsboot" angesichts dessen eine gebündelte Mannschaft Gestrandeter auf unendlich langgezogener, surreal verfremdeter und doch gefährlich betörender Meeresoberfläche, von denen sich Hitchcock im Laufe ihrer in Anbetracht der Geschehnisse vulgär-vorstellbaren Entwicklung (kongruent mit der Entwicklungsperiode des Unwetters auf hoher See) distanziert abwendet; um Isolation, die Tragik der Sterne am Nachthimmel, um Siechtum, um den Wahnsinn unverwüstlicher Lebensenergie als auch um die Vergänglichkeit des Seins, die schlagartig von den Wellen (oder von einem schlechten Pokerblatt) hinfort gerissen werden kann.

Die Quintessenz aber ist eine Bootslänge tiefer zu finden. Inmitten des fälscherlicherweise als propagandistisch diffamierten, da weltkriegspolitisch aufgeladenen Hintergrundes gemahnt der Film an progressive, humanistische Werte, sich gemeinsam als demokratische Gegenkraft zu totalitären Denkschablonen (in Gestalt eines deutschen, undurchschaubaren Schiffbrüchigen) auszusprechen und letzte Kräfte zu mobilisieren. Der ins Mörderische, Viehische und Verwerfliche abgleitende Perspektivwechsel zwischen Vertrauensvollem, Vorurteilsbehaftetem und Hasserfülltem entblößt währenddessen jedoch Myriaden an moralisch allenfalls schwer ausdiskutierbaren Schlüsselfragen, die jeden Krieg entfachen, jäh beenden und bis heute an den künstlichen Schläuchen der Geschichtsverantwortung hängen: Wer ist das Opfer? Wer der Täter? Und warum überhaupt existieren die Barrieren der Völker gegenüber dem, was sich Mensch nennt? Die hierfür auf und ab schaukelnden Bilder sind auch Anklage – gegen alle, die sich anmaßen, Recht auf wackligen Füßen zu sprechen und schlussendlich an ihrer fehlgeleiteten Entscheidung zerbrechen, resigniert der Katastrophe in die Karten zu spielen.

Doch "Das Rettungsboot" definiert sich über keine durchgehende nihilistische Schwarzfärbung. Hitchcocks meditativ tuckernder Bootsfilm ist vor allem auch sehr ungezähmt, sehr komisch, fast hintersinnig komisch. (Hitchcock genehmigt sich dazu einen der ironischsten Cameos.) Tallulah Bankhead spielt dabei den kultivierten Opponenten zum schweiß- und schmutzverspritzten Bodenpersonal: Kippe galant zum Lippenstiftmund, lackierte Nägel, Schminke, Designerwäsche. Eine der Show verschriebene Künstlerin, aufgestiegen aus der Gosse, grausam objektiv. Ihr materieller Reichtum, ihre Seele und Identität, wird in regelmäßigen Abständen zerkleinert, zertrümmert, augenzwinkernd demontiert. Der Fotoapparat, die Schreibmaschine, das Armband – indem sie zur Normalität zwangsweise zurückfällt, erntet der Film seine zwischenmenschliche Ausgeglichenheit, die, nach zig Explosionen, gar nicht lange halten kann. 

7 | 10