Dienstag, 14. Juli 2009

"Boogie Nights" [USA 1997]


Story

Los Angeles, 1977: Jack Horner, anerkannter Filmproduzent für Pornofilme, findet in Eddie Adams seinen neuen Filmstar. Sieht gut aus, macht sich gut vor der Kamera und ist im Bereich des Reißverschlusses exzellent ausgestattet. Die beiden schaffen es, die Pornoindustrie neu zu erfinden und gelangen zu großem Ruhm. Allerdings hat dieser Erfolg auch Schattenseiten, wie sich bald zeigen wird...

Kritik

Paul Thomas Anderson ist mit seinen bisher fünf Regiewerken gewiss kein Vielfilmer. Innerhalb von zwei bis vier Jahren drehte der gebürtige Kalifornier bis jetzt einen neuen Film. Und doch wird sein bisheriges filmisches Schaffen von einem roten Faden durchzogen. "Magnolia" (mit einem etwas anderen Tom Cruise), "Punch-Drunk Love" (mit einem etwas anderen Adam Sandler) und "There Will Be Blood" (mit einem Daniel-Day Lewis in der Rolle seines Lebens) sind nicht nur Meisterwerke, aus denen Urkräfte erstrahlen, tragen noch dazu einen nicht zu leugnenden Anspruch epischer Größe in sich, repräsentieren nicht nur in gewisser Weise, auf welch konstant hohem Niveau der Filmemacher arbeitet, "Magnolia", "Punch-Drunk Love" und "There Will Be Blood" sind vielmehr Beispiele dafür, warum Paul Thomas Anderson als Regiewunderkind des 20./21. Jahrhunderts gilt. Ein Regisseur, der sich ganz auf die Kraft seiner Bilder verlässt, die auf eine gleichermaßen kraftvolle und hochkomplexe Erzählung treffen. Anderson fängt Stimmungen und Situationen außergewöhnlicher, uns fremd erscheinender Milieus ein, kreiert darin einzigartige Atmosphären, die von Figuren getragen werden, welche uns näher stehen, als wir anfangs vermuteten. Im Grunde genommen reiht sich des Regisseurs "Boogie Nights" genau in diese Kerbe "exotischer" Umgebungen ein. "Boogie Nights" öffnet die bisher verschlossene Tür und gibt Einblicke in die aufkommende Pornofilmindustrie der späten 70er und frühen 80er-Jahre, die von Anderson derart natürlich und sozial, ja, als Normalität porträtiert wird, dass es uns zunächst einmal die Sprache verschlägt. Mit "Boogie Nights" wollte Anderson einen erotischen Film drehen, doch er wollte keinen pornographischen Film in die Tat umsetzen. Deshalb ist "Boogie Nights" vor allem ein Werk, welches auch all jene anspricht, die sonst nichts mit dreckigen Pornogeschichten eines dreckigen Genres anfangen können.

Andersons Ausflug ins Business, wo Sex lediglich als professionelle "Verrichtung" funktioniert und Sexualität als "Mechanik" angesehen wird, ist als klassische Rise-and-Fall-Story, in der neben Sex, Drogen und der freien Liebe eben auch die handelsübliche Tragik des Aufstiegs und Falls, mehr noch, die Transformation einer unerotischen Seifenverpackung über Nacht zur Hardcore-Pornoqueen eines 17-jährigen, gigantisch bestückten Jungen – sagenhafte 33 cm - mit dem sinnlichen Namen Dirk Diggler (Mark Wahlberg) eine Rolle spielt, konzipiert. Formal lässt sich der Film dabei in zwei grobe Hälften untergliedern, wovon die erste vom phänomenalen Aufstieg Eddie Adams berichtet, der durch seinen furchteinflößenden Apparat in der Hose vom Tellerwäscher zum Millionär jenen american dream verkörpert, den sich so viele wünschen würden. So stellt sich "Boogie Nights" anfangs als hysterisch-episches, als buntes, lautes und schrilles Vergnügen heraus, voller pulsierender Nachtclubs und überschäumender Energie, in dem Sex noch die Lösung für alles war, in dem Drogen cool waren, in einer längst vergessenen Ära, die sich langsam ihrem Ende nähert. Einer Ära, die von Hotpants, Rollschuhen und musikalischem Pomp begleitet wurde, und in der eine rote Corvette Stingray noch als ein Symbol Amerikas vermeintlich heiler Welt fungierte. Da gibt es willige Frauen zu verzeichnen und gutgerüstete Männer; man ist modern, man hat seinen Spaß. Anderson führt den Zuschauer – ohne in oberflächliche Moralisierungskaskaden und obligatorische Klischees zu verfallen - in eine tranceähnliche Halbwelt, die uns schon nach wenigen Augenblicken vertraut und einladend vorkommt.


Dieser erste Akt, beginnend in den späten 70er-Jahren, hat viel Esprit, Thempo, Charme, lockere Dialoge (unter anderem zwischen Reed und Eddie/Dirk) und überbordenden Witz. Anderson stützt sich einerseits auf viele interessante kleine Metaphern und Doppeldeutigkeiten – etwa wenn die Kamera den im Stuhl sitzenden, offensichtlich zufriedenen Jack Horner (Burt Reynolds) fokussiert, nur um im nächsten Augenblick, in der darauf folgenden Einstellung also, Eddies verzweifelte Mutter in selbiger Sitzposition einfängt; oder etwa dann, als Eddie sein Zuhause fluchtartig verlässt, die Tür sich und damit sein altes kümmerliches Leben schließt, bis Jack ihm eine neue Tür in ein neues Leben öffnet – andererseits auf skurrile Anekdoten, die nicht selten zum bitteren Drama ausgeweitet werden. So entpuppt sich der running gag, bei dem ein Mann (Little Bill – William H. Macy) seine Frau (Pornoqueen Nina Hartley) regelmäßig mit fremden Kerlen erwischt, urplötzlich als Blutbad, wenn sich Little Bill (der wahrscheinlich nicht mehr zwischen der Selbstverständlichkeit der Sexualität im Leben und Sexualität im Film unterscheiden kann) samt Frau und Liebhaber auf der Neujahrsparty erschießt, was wiederum den zweiten Akt einleitet. Oder der Augenblick, als Rollergirl (Heather Graham) einen Rüpel aus ihrer Schulzeit bei einer Art Reality-Porno-Show begegnet, der sie damals belästigt hat, und der letztlich bis zur Unkenntlichkeit als eine Art verspätete Rache zusammengeschlagen wird, genauso wie der Überfall auf ein Restaurant, bei dem Buck Swope (Don Cheadle) als einziger Überlebender das Lokal blutbespritzt, aber ansonsten unversehrt samt dem Geld der Kasse verlassen kann.

Doch sobald sich das Pornogeschäft zum Video-Massenmarkt mit seinen billigen Produktionen wandelt, wandelt sich auch "Boogie Nights" vom tänzerischen Good Times-Streifen zur menschlichen und ernsten Tragödie. Sobald der Massenmarkt jegliches Niveau verdrängt, dass Jacks Filme noch hatten, brechen die emotionalen Sehnsüchte und Defizite der Akteure an allen Ecken und Kanten durch. Da Jacks Regiekünste, wenn man das so nennen mag, nun nicht mehr gefragt sind, gehen gleichzeitig auch Dirk Digglers Schauspieltalente nach und nach den Bach runter. Er sieht sich nun einem neuen Kontrahenten gegenüber, wechselt vom Pornogeschäft ins kriminelle Milieu, landet zwischenzeitlich sogar auf dem Straßenstrich. Seine angestrebte Karriere als Rockmusiker mit seinem Freund Reed Rothchild (John C. Reilly) scheitert kläglich (Robert Downey, Sr. ist als Musikproduzent zu sehen). Es wird jetzt nicht mehr aus Lust an der Sache gekokst, es wird aus Frust gekokst. Aus einem scheinbar harmlosen Streich einem zugedröhnten Multimillionär/Drogendealer Backpulver statt Kokain zu bringen, entwickelt sich ein groteskes Chaos mit Leichen und Blut. Aus Fröhlichkeit wird Verzweiflung.


Damit nicht genug: während Colonel James (Robert Ridgely) des Kindesmissbrauchs bezichtigt wird, während Amber (Julianne Moore) vergeblich ihr Sorgerecht für ihren Sohn erhält, wird ebenso aus Buck Swopes Traum, einen eigenen Hi-Fi-Laden zu besitzen und eine eigene Familie zu gründen angesichts der pauschalen und unaufgeklärten Doppelmoral der Gesellschaft (er arbeitete schließlich im Business mit dem Sex, worauf ihm seine Bank den Kredit verweigert) eine bitterböse Farce. Den zweiten Akt des Films kann man daher auch als Abschnitt interpretieren, in dem nicht nur der Fall aller Protagonisten skizziert wird – zumindest bis zu einem gewissen Grad -, im weiteren Sinn verkörpert dieser eher die Tatsache, dass hier ernste menschliche Zerwürfnisse an der Tagesordnung sind, welche all jene Träume zerplatzen lassen, die die Charaktere (keine hartgesottenen Individuen, die nur ihr Handwerk im Kopf haben) in Jacks Haus hegten - darunter gesellschaftliche Anerkennung, große Kunst und die Vision einer seriösen Laufbahn.

Dennoch tangiert Anderson Macht, Geld und Strukturen in seinem Universum allerhöchstens nur peripher, die tendenziell eher für eine Anzahl an dramaturgisch notwendigen Wendepunkten sorgen, statt zur Unterfütterung von Fakten und Wirklichkeiten. So funktioniert "Boogie Nights" eben auch als Charakterstudie. "Boogie Nights" gibt den Figuren den Vortritt, nicht der Porno-Industrie. Der Regisseur greift dabei auf ein riesiges Ensemble an erstklassigen Darstellern zurück. Da gibt es einen grandiosen Burt Reynolds, der sich mit Sätzen wie "Spritz ihr auf die Titten." seinen Ruf als ernstzunehmender Schauspieler zurückerkauft hat. Er spielt Jack Horner, einen alten Schmierenkomödianten und gilt als eine Art Allzweck-Vaterfigur (Vater-Sohn-Motiv, das bei Anderson vermehrt zum Einsatz kommt), die ihre Familie zusammen in einem großen Haus um sich schart, und die ihr "Kind" (Dirk Diggler) am Ende des Films wieder in den Armen halten kann ("Boogie Nights" - teils auch ein Familienfilm). Eine dramatische Katharsis sucht man hier vergebens, denn am Ende wendet sich eh alles wieder zum Guten, sieht mal von Ambers resignierendem Blick in den Spiegel ab. Paradoxerweise ist es gerade Jack, den man nie bei sexuellen Aktivitäten beobachten kann, der ein Leben in Enthaltsamkeit zu führen scheint und der trotz etlicher Rückschläge durch und durch an seinen Visionen, an seinen Idealen festhält.


Zusammen mit einem Mark Wahlberg in der Rolle seines Lebens (Anspielung an den realen Porno-Star John Holmes), der seine Rolle mit künstlerischer Begeisterung und einer die Hosennaht zu sprengen drohender Männlichkeit meistert, zusammen mit Julianne Moore alias Amber, die in Dirk so etwas wie einen Ersatzsohn für ihren eigenen Sohn sieht (und die nebenbei die sanfte und sensible, aber nicht minder erotische Mutter aller aus Jacks Haus zu sein scheint), Thomas Jane, Philip Baker Hall, Philip Seymour Hoffman mit sehr ansehnlicher Figur und Alfred Molina in weiteren Rollen samt oben genannter Akteure ergibt sich daraus eine der überzeugensten und lebendigsten Besetzungen der 90er-Jahre.

Handwerklich bestechen insbesondere die langen, mittlerweile zum Markenzeichen gewordenen Kamerafahrten eines Paul Thomas Anderson, bei denen er sich einmal mehr vor seinen großen Regievorbildern wie Orson Welles und Martin Scorsese verneigt. Immerhin erinnern Robert Elswits spektakuläre, minutiös arrangierte und furiose Plansequenzen/Close Ups an Michael Ballhaus' Photographie in "Good Fellas - Drei Jahrzehnte in der Mafia" oder an Welles' Eröffnungsszene in seinem film noir "Im Zeichen des Bösen", als die Kamera mehrere Minuten lang über die Häuserdächer schwebt, was in "Boogie Nights" ganz zu Anfang in ähnlicher Form zelebriert wird. In nur einer einzigen dreiminütigen Einstellung werden de facto alle Charaktere vorgestellt. Aber auch die schrille Kleidung, der Dekor und nicht zuletzt der fantastische Soundtrack mit Liedern von Rick Springfields "Jessie's Girl" bis hin zu "Livin' Thing" vom Electric Light Orchestra spiegeln einen integralen Bestandteil des Films wider und erwecken Andersons Zeit-Porträt virtuos zum Leben. Überhaupt erinnert des Filmemachers kaleidoskopartiger Inszenierungsstil gepaart mit eruptiven Gewaltakten an Robert Altman und Scorsese. Letzterem widmet Anderson sogar die kultige und sinnlich-freizügige Schlussszene, als Dirk Diggler vor dem Spiegel steht und seinen 33 cm-Lümmel im nichterigierten Zustand aus der Hose holt. Wie einstmals Lake LaMotta (Robert De Niro) im Miami-Vice-Outfit (in "Wie ein wilder Stier") öffnet Diggler nach dem "Spiegelmonolog" seinen Reißverschluss und offeriert dem Publikum einen riesigen, einen gigantischen Anblick - "33 Zentimeter sind 'en ziemlicher Hammer. Das ist wahr."


Fazit

"Boogie Nights", das ist trotz seiner verhältnismäßig nüchternen Sexszenen letzten Endes ein überaus sehenswertes period piece, eine cineastische Großtat, eine umwerfende zweieinhalbstündige Parabel auf das Filmgeschäft und das Leben der 70er/80er-Jahre, in der sich ein illustrer Cast die Klinke in die Hand gibt. In seiner sorgfältig detaillierten Welt spart Paul Thomas Anderson weder mit unterschwelligem Spott noch mit satirischen Seitenhieben. Anderson beschönigt die Branche nicht, er verurteilt sie aber auch nicht, sondern zeigt auf, mit welchen Hoffnungen und Motiven das Zeitalter des aufkommenden Pornos verbunden war, wodurch "Boogie Nights" zu einem essentiellen Teil zur Aufarbeitung der Geschichte dient. Ein visuell beeindruckender, temporeicher, vielschichtiger Film, der mehr als nur 1000 Ständer wert ist.

10/10