Mittwoch, 20. Juli 2011

"Der Tiger von New York" / "Killer's Kiss" [USA 1955]


Schauspieler mittelmäßig, Thema idiotisch. Im Rückblick auf seinen zweiten offiziellen Spielfilm – sein erster Film "Fear and Desire" war so schlecht, dass er glatt alle Kopien aufkaufte – ließ Stanley Kubrick einige Jahre später kein gutes Haar am "Tiger von New York". Es sei ein dämlicher Film, ausnahmslos dilettantisch gefilmt, trotz einiger zufriedenstellender Passagen. Das trifft es gut, ziemlich gut, obgleich Kubrick seine Filme meist ungemein kritischer einschätzte als sie schlussendlich waren. "Der Tiger von New York" taugt heute stellvertretend dazu weniger als filmmechanisch ausgewogener Noir, sondern als interessante Auseinandersetzung mit dem kinematografischen Reifeprozess des Regisseurs als solches. Der Film verkörpert eine stilistische Fingerübung, ebenso wie eine kleine Kammerspielmusik in Anbetracht dessen, welche großen Symphonieorchester später folgen sollten. Er gibt einen Vorgeschmack auf Symbole, Motive, Perspektiven, er eröffnete die Suche, der Suche nach der vollendeten Kunst mit manischer Besessenheit, der Suche nach dem perfekten Bild in einer perfekten Einstellung eines perfekten künstlerischen Erzeugnisses. Noch war diese Suche nicht abgeschlossen, Kubrick suchte nach diesem Film weiter; "Der Tiger von New York" war keinesfalls ausbalanciert im Verhältnis zwischen Technik und Geschichte, aber er wusste wesentlich mehr über seinen Schöpfer vorwegzunehmen als zukünftige Projekte nach ihm.

Kubricks ausgeprägte Affinität zu gesellschaftlichen Außenseitern lässt sich bis zum "Tiger von New York" nachvollziehen; auch später widmete er menschlich gebrochenen und sozial isolierten Figuren ihre eigenen Filme. Jahrzehnte vorher interessierte ihn bereits das Einsame der Seele, in dem er den erfolglosen Boxer Davy Gordon (Jamie Smith) ins Zentrum der Handlung einer klassischen Dreiecksbeziehung rückt, die bei Entflechtung der jeweiligen Beziehungen untereinander eigentlich überall Außenseiter offenbart. Da ist der introvertierte Boxer, alleingelassen und auswegsuchend, vielleicht mit Hilfe einer Frau. Da ist seine finanziell angeschlagene Freundin (Irene Kane), seine zukünftige neue Frau, das kleine Häufchen Elend, zwangsverliebt und auswegsuchend, vielleicht mit Hilfe eines Mannes. Da ist ihr ehemaliger Geliebter (Frank Silvera), der skrupellose Gangsterboss, der Henker, wie er genannt wird, kaltherzig, aber auch verletzlich, auswegsuchend, vielleicht mit Hilfe einer Frau, die ihm den Status von Macht verleiht. So schließt sich der Kreis. Das Ziel eines jeden Einzelnen ist gleichzeitig der Ausweg des jeweils anderen. Und am Ende schließt sich der Kreis tatsächlich: Kubrick inszeniert ein zuckersüßes Happy End, wo der Name "David" kaum zartschmelzender ausgerufen werden könnte. Des Regisseurs stets anhaftender Ruf des kühlen, an Wärme und Schicksal vorbeinszenierenden Laboranalytikers wird damit (ironisch, wohlgemerkt: das Studio wollte einen optimistischen Schluss) ins Gegenteil verkehrt. Jeder bekommt am Ende das, was er in den Augen des Publikums moralisch verdient.


Möge Kubrick in "Der Tiger von New York" gewohnt nach dem visuell-Erhabenen nachschnüffeln, erhaben ist sein Inhalt nicht. Die narrative Unbeholfenheit angesichts eines in den Kinderschuhen steckenden Ausnahmekünstlers oszilliert zwischen verquasselter Schwarzer Serie, abgestandenem Melodram, verschachtelter Rückblendenerzähle und rudimentärer Boxerstudie, je länger Kubrick erzählt; so lange, dass selbst eine knappe Gesamtlaufzeit von etwas mehr als einer Stunde nichtsdestoweniger Überlänge heraufbeschwört. Manches arbeitet Kubrick hinein, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass es weder Sinn noch Mehrwert bedeutet. Natürlich ist die Möglichkeit anhand des geringen Budgets begrenzt, spektakuläre Haken zu schlagen. In einer Szene versucht Kubrick dies sogar zu kaschieren, wenn er vor dem Hintergrund einer tänzelnden Ballerina die Leidensgeschichte dieser mit dem Voice-over ihrer Schwester Gloria (Kane) erzählt. Allerdings: Es ist nicht von Belang, nicht für die Handlung, nicht für die handelnden Personen, es gewichtet nichts Zusätzliches oder lenkt oder dirigiert, es schwebt stattdessen in der Luft und hängt da oben als ein verlorenes Puzzleteil, das auf seinen vermeintlichen Anschluss an die anderen Teile wartet. So auch die mehrmals angerissene Onkelgeschichte, zu dessen Ranch Davy eingeladen wird, um dort eine Auszeit zu nehmen – ein weiteres verlorenes Puzzleteil, ohne Anschluss, vollkommen unwichtig, Ballast, den es abzustreifen gegolten hätte.

Kubricks absonderlicher Genrehybrid spiegelt auf der erzählerischen Ebene also konsequent seine vorsichtige Suche wider, die schon bald modifiziert, geölt und schließlich vollständig zum Laufen gebracht werden sollte. Bis dahin ist es ein langer Weg. Es überrascht kaum, dass im zweiten Film seine Charaktere noch austauschbares Massenwerk ähneln, Stereotypen, nicht besonders gut gezeichnet, im Grunde ebenfalls antrieblos, ausgesaugt, schlapp, kraftlos, nichts weiter als Abziehbilder und Knieverbeugungen traditioneller Noir-Schablonen: die blonde, undurchsichtige Femme Fatale, der heldenhafte Looser, der durchgestylte Böse, dunkel angezogen, mit dunklen Absichten. Und das obligatorische Opfer zur dramaturgischen Richtungsänderung, hier: Davys Boxfreund aus der Sporthalle, Albert (Jerry Jarret). Das ist größtenteils unsicher gespielt, keine Frage (am ehesten sticht Silvera heraus), aber gerade nicht so eklatant unsicher, dass es nicht authentisch sein könnte.


Da, wo Kubrick narrativ kleckert, protzt er audiovisuell – und nimmt einige, bald zu seinem Markenzeichen avancierende Stilmittel vorweg. Sein kompositorisch-streng-spröder, allegorisch-naturalistischer, Licht und Schatten durchsetzter Handkamerastil eines Hochglanzmagazinfotografen (der er einmal war) ist geprägt von Experimenten mit der Mise-en-scène. Eine Verfolgungsjagd missbraucht er buchstäblich dazu, der Verfolgungsjagd jedwede Spannung zu rauben. Lieber rahmt er die dadurch nebenher entstehenden Panoramaaufnahmen – nicht zum allerersten Mal – zum ergrauten Gemälde einer zur Trostlosigkeit erstarrten Großstadt ein. Sobald er die Verfolgung auf ein Dach verlagert, montiert er diese als einzigen Kameraschwenk im Wechselspiel mit ästhetischen Vogelperspektiven, um das Finale metaphorisch in einer Schaufensterpuppen herstellenden Fabrik zu verschieben. Surrealismus im Angesicht des ultimativen Zweikampfes, dessen Ausgang darüber entscheiden wird, wer das Mädchen bekommt und wer nicht. Kubricks handwerkliche Ideen sind vielfältig, sein handwerkliches Geschick zum damaligen Zeitpunkt beachtlich. Mafiaabgesandter Rapallo (Silvera) schleudert aus grenzenloser Wut ein Glas auf ein an der Wand hängendes Bildnis, nur dass das Glas nicht das an der Wand hängende Bildnis trifft, es trifft direkt die Kameralinse und versetzt ihr einen Riss. Anderes Beispiel: Die ausladende Boxszene erinnert an Scorseses viel später entstandenem "Wie ein wilder Stier"; die Kamera filmt beide Kontrahenten von der Seite, von unten, hektisch, wacklig und wird zu Boden geschmettert, blickt zur Decke auf, in jenem Moment, als der tödliche Schlag den Gegner genauso zu Boden schmettert.

Kubrick wird weiter suchen, formale Perfektion und ökonomisches Erzählwerk auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Bis dahin verbleiben wir mit einem nett gemeinten "knappüberdurchschnittlich" für den Tiger. Von New York.

5,5/10