Montag, 12. Januar 2009

"Das Fenster zum Hof" / "Rear Window" [USA 1954]


Bereits 1948 ließ sich Alfred Hitchcock auf ein filmisches Experiment ein. Nämlich mit seinem lediglich etwas über 70 Minuten dauernden Kammerspiel "Cocktail für eine Leiche", der nur geschnitten wurde, wenn es aufgrund der seinerzeit begrenzten Filmrollen der Kameras unbedingt erforderlich war. Jedoch an für den Zuschauer kaum wahrnehmbaren, "unsichtbaren" Stellen, sodass sich der Anschein herauskristallisiert, dass der Film aus einer einzigen Kamerafahrt bestehe. So wurde "Cocktail für eine Leiche" letztlich zwar kein enormer Kassenschlager, seine visuelle Eingängigkeit in Verbindung mit einem ebenso markanten narrativen Konzept kann man ihm dennoch nicht absprechen, was zudem impliziert, dass dem Altmeister, der einen handwerklich nahezu neuen Weg beschritten, diesen auch bravourös gemeistert hat. Sieben Jahre später geht Hitchcocks besonderes Rezept, seine Handlung in einem verhältnismäßig kleinen Raum auszubreiten und die Konstellation der Figuren aufs Minimalste zu beschränken, in die nächste Runde. "Das Fenster zum Hof" heißt er, dieser formal einmal mehr ganz und gar auffallende Kandidat, bei dem sich der "Master of Suspense" auf eine äußerst geistreiche Geschichte stützt und zugleich die konventionellen Sehgewohnheiten des Zuschauers ad absurdum führt.

In Hitchcocks Film ist die Rahmenhandlung – nach einer Kurzgeschichte von Cornell Woolrich, dessen erzählerische Vignetten allerdings um einiges ausgebaut wurden – von einem an den Rollstuhl gefesselten Fotografen, der seine Freizeit damit verbringt, seine wohlgesonnene Nachbarschaft explizit unter die Lupe zu nehmen, auf den ersten Blick sicherlich das Ergebnis eines simpel gestrickten Plots. Doch John Michael Hayes' Script und Hitchcocks professionelle Regie lassen die Gesamthandlung sukzessive in einem ganz anderen Licht erscheinen, ist sie doch in Wirklichkeit vielschichtig und offenbart unter der scheinbar klassischen Detektivstory ein überraschend hohes Maß an Komplexität. In erster Linie ist "Das Fenster zum Hof" eine psychologisch mehrdimensionale Studie über Liebe, über die unersättliche Gier unserer Augen, über die Frage nach der Funktionalität einer möglichen Ehe zweier völlig unterschiedlicher Individuen mit völlig unterschiedlichen moralischen Auffassungen vom Leben, aber auch ein mehrschichtiges Essay über das Sehen und Gesehenwerden, den Voyeurismus als solches. Denn Hitchcock erweckt den heimlichen Voyeur in uns allen, indem er uns per Kameraauge intensiv an der Handlung teilnehmen lässt und uns schlussendlich genauso hilflos macht wie den Protagonisten L. B. "Jeff" Jefferies (obsessiv idealistisch: James Stewart).

Aus diesem Grunde verführt uns quasi der Regisseur. Der Zuschauer starrt genauso enthusiastisch auf diesen Mikrokosmos von Hinterhof wie Jeff. Der gefesselte Fotograf fungiert somit als Stellvertreter für den Kinozuschauer. Wir sehen alles, was Jeff sieht. Wir sind aber auch gleichermaßen hilflos wie der Protagonist, wir können nicht eingreifen, wenn es zu ausweglosen Extremsituationen kommt, so wie jene, in der Lisa (edel und engelshaft: Grace Kelly) in die Wohnung des verdächtigten Mr. Thorwald (bärbeißig: Raymond Burr) einbricht, um mit Beweisen herauszukommen, der Verdächtige jedoch früher nach Hause kommt, als vorher angenommen. Und nichtsdestotrotz befreit Hitchcock den heimlichen Voyeur in uns, denn wir sind wie der Fotograf neugierig und können unsere Augen nicht von diesen zwielichtigen Gestalten, schon gar nicht von Mr. Thorwald, lassen, zu groß ist die Versuchung, zu klein, um wegzuschauen.


Und was sehen wir da? Blicke, Reaktionen. Hitchcock analysiert sie, seziert die unterschiedlichsten Verhaltensweisen. De facto zieht er den Betrachter des Films unmittelbar in dessen Handlung ein, ohne dass der Zuschauer dabei einen Informationsvorsprung gegenüber Jeff hat. Alles was er weiß, was er mutmaßt und was er nicht sieht, ist auch bei uns – den Zuschauern – so. Und wir steigern uns schlussendlich ähnlich rein wie Jeff. Selbst unser Interesse für diverse andere Personen schwindet immer mehr. Die möglicherweise tote, unbekannte Frau erscheint uns mehr und mehr wichtiger als die bekannten Lebenden. Wir wollen mit aller Macht, dass Mr. Thorwald tatsächlich der Mörder ist. Eine harmlose Erklärung für die Geschehnisse würde uns und Jeff dagegen enttäuschen.

Verpackt in intelligenten, gleichwohl unideologischen sowie ungemein fesselnden Krimi mit einer Vielzahl an Wendungen, zudem in Sachen Konstruktion, Dramaturgie und Atmosphäre verblüffend austariert, ist "Das Fenster zum Hof" vor allem eines: spannend. Und heiter. Denn "Das Fenster zum Hof" versprüht wie die Mehrzahl der Filme aus dem Schaffenswerk Hitchcocks einen angenehm komödiantischen Touch. Doch keineswegs mit Hilfe albernen, platten Slapsticks, sprich dem Holzhammer. Das Drehbuch driftet stattdessen in sarkastische und gar zynische Töne ab. Die Geschichte spielt im warmen Sommer, alle Türen und Fenster sind geöffnet, aus denen leichte Musik erklingt. Wir sehen, auch innerhalb der Innenhofkulisse, ruhelose Menschenmassen in ihrer Lebensvitalität. 

Dank Hitchcock, dank seiner akribischen Detailverliebtheit, werden wir jedoch keinesfalls Zeuge, wo die Menschen genau wohnen, wir bekommen eher einen interessanten Einblick in das Privatleben derer; all' ihre Schwächen, ihre Geheimnisse, ihre Indiskretionen werden uns (schamlos) nähergebracht. Dort leben alte und junge Leute, aber auch einsame Leute, beispielsweise in Gestalt eines bildschönen Mädchens, eines erfolglosen Künstlers oder einer lethargischen und – so scheint es jedenfalls – suizidgefährdeten Dame, die die Liebe ihres Lebens vergeblich findet.


Ungeachtet dessen liegt der Fokus der hiesigen Nachbarschaft nicht nur auf dem Alleinsein als solches, denn laut Hitchcock ist es hauptsächlich das zentrale Motiv der Liebe, das hier aufgegriffen wird. Wenn man genau hinschaut, erweist sich das als richtig. Da ist das junge Liebespaar, frisch verheiratet, das ständig miteinander schläft – sehr zum Leidwesen des Ehemannes. Da begegnen wir dem ältesten Ehepaar, das ihre Liebe ihrem kleinen Hündchen widmet, da ist die attraktive Tänzerin, die von einer Vielzahl an attraktiven Männern umgeben ist, letztendlich aber auf ihren kleinen, von Schönheit gänzlich befreiten Freund wartet. Da ist der Pianist, der durch ein eigenkomponiertes Lied die Aufmerksamkeit einer weiteren Person, der oben erwähnten, verlorenen Dame "Miss Lonely Hearts", erweckt. Und natürlich sind da Jeff und Lisa.

Jeff und Lisa. Das sind die beiden Protagonisten, die "Das Fenster zum Hof" auf eine andere Ebene heben. Auf eine deutlich nachdenklichere. Denn wie in anderen Filmen des Meisterregisseurs geht es auch hier nicht vordergründig um einen vermeintlichen Mord und dessen Aufklärung, sondern vor allem um zwischenmenschliche Beziehungen. Jeff ist unschlüssig, ob er mit Lisa eine Beziehung eingehen will. Immerhin sind das zwei Paar Schuhe. Eine junge und schöne Frau mit dem Hang zur neuesten Mode, die jeden Tag ein neues Kleid trägt; eine Dame von reichem Hause. Und die in ihrem Jeff den Mann ihres Lebens gefunden zu haben scheint, nach Liebe dürstend. Auf der Gegenseite ein Fotojournalist, der in alle Herren Länder reist, der fast tagtäglich sein Leben aufs Spiel setzt, der mit den haarsträubendsten Situationen fertig werden muss. So was kann doch nicht wirklich funktionieren, oder?

Hitchcock stützt sich auf keine eindeutige Antwort, er differenziert die These in argumentativen Dialogen zwischen Jeff und Lisa. So verhält es sich gleichfalls mit der Frage, ob es moralisch richtig ist, seine Nachbarn derart pathologisch zu beobachten, auch wenn dabei ein Mörder entlarvt werden kann. Und dann ist da noch der Subplot mit dem Detektiv (kein Cognacschwenker: Wendell Corey). Eine tendenziell anachronistische Randbeobachtung, die sich damit beschäftigt, dass sich Jeff alles einbildet. Tom Doyle, dieser Detektiv, ist zwar sein Freund, kann ihm aber aufgrund der Rechtslage nicht weiterhelfen, ja, er hat für alles eine sogar mehr oder weniger plausible Erklärung. Jeffs Vermutungen findet er dagegen lächerlich, sodass der Fotograf den Fall allein, auf nicht gerade legale Weise aufklären muss, am Ende jedoch für seine Neugierde (symbolisch) bestraft wird (obgleich er auch getötet hätte werden können; der Film übt trotzdem keine wesentliche Kritik am Belauschen anderer, sondern überspitzt, nicht nur ausschließlich in Form des bissigen Kontrapunktes Thelma Ritter, die Konsequenzen).

7 | 10