Montag, 15. September 2008

"Gosford Park" [GB, USA, D 2001]


Agatha Christie trifft auf Robert Altman. Krimithriller begegnet Charakterstudie. So oder so ähnlich könnte man Altmans "Gosford Park" elegant umschreiben. Mit ironischem Augenzwinkern und scharfem Auge für das Wesentliche gibt uns der Regisseur darin einen höchst lehrreichen, analytischen und bissigen Einblick in eine verflossene, in eine uns fremd erscheinende Welt, die von koketten Aristokraten und ihren treu ergebenen Dienern beherrscht wird. Ein im sozialen Kontext eingewobenes Sittengemälde, in nur einem einzigen Haus, einem riesigen Landsitz im anfangs verregneten England stattfindend, in dem sich nach und nach eine furchtbare Tragödie sich dem Zuschauer offeriert. Und genau an dem Punkt weidet sich die treffsichere Dokumentation der Klassensysteme Englands in den 30er Jahren zu einem mysteriösen Krimi aus.

Ein Krimi, der es dennoch nie schafft, sich in den Fokus des Geschehens zu mogeln. Der Mord gilt mehr oder weniger als Nebensächlichkeit, als Hilfe für die Charaktere, die den narrativen Rahmen bilden, und ihre sich immer mehr zuspitzenden Verflechtungen untereinander. Auch die Frage nach dem Mörder scheint keine wirkliche Priorität zu haben, nur am Ende wird eben jene Identität des Verbrechers gelüftet – beiläufig, wohlgemerkt. Typische Krimielemente wie Spannung und Ermittlung werden zudem erheblich vernachlässigt. De facto hat das dies praktisch wenig bis gar nichts mit Agatha Christies ereignisreichen Groschenromanen zu tun, deren Enden stets eine aufregende Pointe beherbergen. Des Weiteren wird der Zuschauer nach bester Altman-Manier mit ausgeprägter Dialogvielfalt konfrontiert, mit sich überlappenden Gesprächsfetzen, die man mal hier und da mitbekommt, um sie im nächsten Augenblick wieder zu vergessen.

Es ist wie ein Blick durch ein Schlüsselloch, dieser "Gosford Park". Ein Blick mittels Andrew Dunns ruheloser Kamera, die selbst an verdächtigen Gegenständen, etwa an Küchenmessern, kleben bleibt. Da treffen zwei extreme Gegensätze aufeinander, in diesem Schloss. Die Dienerschaft und ihre Herren. Und trotzdem moralisiert Altman nicht, bei weitem nicht. "Gosford Park" ist keine Moralfibel im eigentlichen Sinne. Altman erhebt niemals den obligatorischen Zeigefinger, er lässt den Zuschauer einfach teilhaben, an diesem skurrilen Szenario, mit noch skurrileren, uns ungewöhnlich erscheinenden Verhaltens- und Sichtweisen der einen sozialen Schicht zur anderen. 

Angesichts der hohen Lauflänge verliert sich Altmans satirische Dramagroteske nichtsdestotrotz an einigen Stellen in allerlei ausschweifendem Gedöns und büßt dadurch reichlich an Schwung ein. Ein möglicher Kandidat für den Mainstream, für die breite Masse an Zuschauern ist der Film als Resultat also eher nicht. Abgesehen davon bedeutete "Gosford Park" für den Regie-Altmeister die Reise nach England zu seinen allerersten Dreharbeiten in eben diesem Land. So setzt Altmans als oftmals betitelte Komödie auf eine erstaunliche, überdurchschnittliche Riege an englischen Schauspielern, darunter Maggie Smith, Kristin Scott Thomas, Helen Mirren, Ryan Philippe, Stephen Fry und schließlich Clive Owen, die sich fast alle im Gewand eines antiquierten Kostüms wiederfinden.

"Gosford Park" als Abgesang auf eine längst vergangene Epoche ist vollgestopft mit einem Netz aus Intrigen, Rachegelüsten, Hass, Gesellschaftskritik, Witz und Intelligenz. Von einem durchweg brillanten Drehbuch von Julian Fellowes und einem erlesenen Cast unterstützt, zeigt Altmans virtuos gefilmter, ungemein atmosphärischer Film eine teils spöttische und insgesamt sehr vielschichtige Sicht auf die Grausamkeit hinter der glänzenden Fassade einer "feinen" Gesellschaft. Nicht nur für Fans kultivierter Filmkunst ein Muss, sondern auch für jeden anspruchsvollen Cineasten ist dieser komplexe Ensemblefilm mit einem Hauch (!) Agatha Christie Pflichtprogramm.

7 | 10