"Lincoln" irritiert: Für Spielberg-Verhältnisse vergeht eine
ungewöhnlich lange Zeit, ehe das (hierfür eigentlich prädestinierte)
Pathos zuschlägt. Die Überproduktion an Gefühlsentladungen, die
Anhäufung von überdramatischen Ausschreitungen – alles ist zunächst
verkleinert und streng nach Vorschrift proportioniert. Ein wertfrei
erzählter Spielberg scheint sich erstmals anzukündigen, ausgerechnet
einen uramerikanischen Legendenstoff unamerikanisch auf
popkulturverträgliches Miniformat einzustampfen, großen Teilen des
Publikums Geschichtswissen leichtverdaulich zu verkaufen.
"Leichtverdaulich" allerdings auch nicht unbedingt. Dafür flirtet der
Film in den ersten erzählerischen Zuckungen mit der Redundanz seiner
üppigen Anekdoten im undurchschaubar vernetzten Politik-Rummel
schlichtweg zu ausführlich und tempodrosselnd, dass es praktisch klebrig
wirkt; mit der Akribie seiner Requisiten und einer Ausstattung vor
allem, in der jedes Detail überprüft wurde, damit es die Bescheiden- und
Kargheit des Raumes unterstreicht, um sich voll und ganz auf die
zwischenmenschliche Debatte darin zu konzentrieren. So natürlich und
nuanciert wie Daniel Day-Lewis den titelgebenden Präsidenten ohne
egomanische Ausfallserscheinungen, aber voll an warmherziger Güte
verkörpert, so entschleunigt und nüchtern inszeniert Spielberg
historisches, auch universell zu lesendes Aufklärungskino über die
widersprüchliche Komplexität der gesetzmäßigen Richtigkeit in
demokratischen Staatsapparaten, das gekonnt eine Symbolfigur
mythologisch festigt, indem es sie ausschließlich in strengen Licht- und
Schattengegensätzen (wie immer: Janusz Kaminski) herausstellt.
Der (womöglich unbeabsichtigte) Sinn dahinter dürfte sein: Lincolns
ehrbare Motive, in politischer Überzeugungsarbeit, die nicht immer den
Weg des Legalen einschlugen (Schatten), dafür zu kämpfen, die Sklaverei
abzuschaffen (Licht), resultiert weniger aus nachvollziehbaren Gründen,
als aus jenen, die rudimentär in der Schwebe hängen und im Dunkeln
verborgen sind, weil Lincoln an die bloße Funktionalität dessen geglaubt
hat, was er durchsetzen wollte. Nach "Lincoln" wird einem Abraham
Lincoln deshalb vermutlich kein Stück näher gekommen sein, weil
Spielberg die Ambiguität einer Respektperson vorzugsweise inhaltlich
ausspart, die sich auf das gleichzeitig Menschliche wie Couragierte
beschränkt, aber den Schatten nicht ausreichend (!) artikuliert.
Spätestens in diesem Aspekt verklärt Spielberg zum wiederholten Male
eine tragische Gestalt revisionistisch zur immerwährend strahlenden
Lichtgestalt, zur behaupteten Ikone, die eine beweiskräftige Ikone im
amerikanischen Selbstverständnis sein muss; im Kino, das jetzt zum
konservativen Spielberg-Kino mutiert ist. Zwischen unzähligen Interessen
und Konflikten (faszinierend die Kompassmetapher sowie die
Euklid-Diskussion), die einander schneiden und konkurrieren, zeigt
Spielberg die beiden daraus hervorgegangenen Schlüsselszenen
überraschenderweise nicht aus der Nähe, da weder der Ausgang der
geglückten (imponierend pathetischen) Abstimmung des gesetzlichen
Sklavenverbots noch das tödliche Attentat im Theater direkt
veranschaulicht werden. Den Ausgang gestaltet Spielberg per Glockenton,
wenn der Präsident – und das ist ein weiteres Indiz für die Strategie
Spielbergs, Lincoln zu idealisieren – am Fenster zwischen den Vorhängen
steht, die ihn engelsgleich verhüllen, während der Tod Lincolns zuerst
im Gesicht seines Sohnes, also eines Kindes, beklemmende
Unbegreiflichkeit erfährt. Dann hat Spielberg ungewohntes Territorium
endgültig verlassen, die Emotion lässt alle Dämme brechen. Entladung…
jetzt!
6 | 10