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Mittwoch, 14. November 2018

Dokumentation: "Sie werden mich lieben, wenn ich tot bin" / "They'll Love Me When I'm Dead" [USA 2018]


Hat er ihn jemals gesagt, diesen Satz, der den Titel bildet? Ein paar sind sich sicher, andere nicht. Spielte Orson Welles prophetisch auf seinen Nachruhm an? "Sie werden mich lieben, wenn ich tot bin" habe Welles der Überlieferung nach angeblich geäußert. Die Wahrheit scheint unter der Auswahl der Erinnerung ihren zwingenden Wert zu verlieren. Orson Welles überdauert als ein Filmemacher, der (s)eine Legende forcierte und bei dem das Filmmotiv zum Lebensteppich gestrickt wurde – eine charmante Flunkerei, der Spott, die Ironie und vor allem die Hinterfragung des Jetzigen waren ihm eingeschrieben. Dieses sagenumwobene Bild reinigt der Dokumentarist Morgen Neville nicht direkt von aller Hochwürdenpatina, aber gegenüber der Zementierung glühender Verehrung verhält sich seine Dokumentation "Sie werden mich lieben, wenn ich tot bin" vergleichsweise unterkühlt – was heißen soll, dass Neville den großen Mann momentweise schrumpfen lassen muss, um seine Größe zu überblicken und sie ihm gegebenfalls auszutreiben.

Wer sich von Welles' verschollen gegangenem und erst in diesem Jahr auf Netflix museologisch archiviertem Ausgrabungsfund "The Oder Side of the Wind" mittelschwer überfordert fühlte, hat mit "Sie werden mich lieben, wenn ich tot bin" die Gelegenheit, das Werk in aller Produktionsstringenz alternativ sehen, womöglich sogar entschlüsseln zu können. Die Kapitel der Findung, Umsetzung und Verknappung – bis zur schlussendlichen Kappung des Projekts – hatten für Orson Welles traurige Tradition. Die Dispute um Finanzierungstricks (diesmal: aus dem Iran), künstlerisch in Opposition stehende Überzeugungen sowie um eine unaufhörlich Material produzierende Gier waren Nebenwirkungen der gleichen Geschichte hinter jenen, die Welles erzählen wollte. Manche bereitwilligen Interviews, die den autoritären Mogul hinter der Kamera überhaupt nicht vermuten lassen, kontextualisierten bereits in einer anderen Orson-Welles-Dokumentation ("Orson Welles: The One-Man Band", 1995) den Regisseur und das Weltbild – ein Bilderspiegel für alle.


Welles' Scheitern – und darüber stellt Neville eine der essentiellsten Thesen der Dokumentation auf – war für den Amerikaner Ansporn genug, es unentwegt auf ein Ziel hin zu versuchen. Nach den traumatischen Erfahrungen von "Im Zeichen des Bösen" (1958) entwurzelten sich Welles und Hollywood lange Zeit, ehe sie letztmalig zusammentreffen sollten. Wenngleich Welles nie fertig wurde, filmte er nie um des Filmens willen, wie gemeinhin sarkastisch behauptet wurde. Im Gegenteil: In "Sie werden mich lieben, wenn ich tot bin" wendet sich ein gewiefter, ergebnisstrebender und enthusiastisch ansteckender Künstler an die Öffentlichkeit, dem innige Freundschaften alles bedeuteten – Freundschaften, die sich kontinuierlich der Gefahr aussetzen, verraten zu werden. Umso verletzlicher (will heißen: beklemmend "echter") spricht Peter Bogdanovich über einen Streit, den er mit Welles seinerzeit austrug und der dazu führte, dass beide über längere Zeit hinweg nicht mehr offen miteinander sprachen. 

Morgan Neville poliert in diesen Momenten nicht die Krone des Königs, der vor über zwei Jahrzehnten über Xanadu thronte. In diesen Momenten manifestiert sich eine soziale Nähe, die dem Menschen Orson Welles gehört. Der Freiheit der Verstellung ein außerordentliches Leben gewidmet, kann Neville allenthalben begrenzt den Menschen Orson Welles isolieren. Das Leitthema der Dokumentation bleibt die Verbiegung moderner, querlesender Autorschaft. So verlagerte Welles in "The Oder Side of the Wind" berühmte Namen des filmischen Betätigungsfeldes (wie die Filmkritikerin Pauline Kael und Paramounts Vizepräsidenten Robert Evans), indem er sie zu charakteristischen Figuren abstrahierte. Voller Vehemenz betrieb Welles eine Ideologie des Lustwandelns und Springens zwischen den Identitäten: Seine eigene Nase war ihm nie geheuer, daher ließ er sich für seine Rollen beharrlich eine anfertigen. Was Schein, was Sein bei und für Orson Welles war, können nicht einmal die unendlichen Filmrollen beantworten, die uns die Gewissheit geben, dass jemand an etwas irgendwann arbeitete.

Freitag, 12. Oktober 2018

Dokumentation: "Derrida" [USA 2002]


Kirby Dick und Amy Ziering Kofman erscheinen wie die putzigsten, vielleicht auch übermotiviertesten Groupies gegenüber dem, den sie über Monate hinweg ununterbrochen medial begleiteten: den französischen Philosophen Jacques Derrida. Er solle doch etwas über die Liebe sagen, welcher Philosoph seine "Mutter" sei und was ihn an Biografien namhafter Philosophen am meisten interessiere (das Sexualleben!). Derridas grüblerische, richtungsirrlichternde Antworten lassen lange auf sich warten, die Fragen sind ihm nicht geheuer, von Improvisation ganz zu schweigen – zu "leer und voller Klischees" sein Kopf. Als eine der einzigen Dokumentationen ist "Derrida" nicht zugepflastert mit einstudierten Sinnbezügen, denn stets geraten Dokumentarfilmer und Dokumentierter hierin aneinander, durchbrechen die vierte Wand und improvisieren (unbewusst). Das ironischste Kompliment, das "Derrida" verträgt, ist, dass sich diese Dokumentation (über Dekonstruktion) quasi selbst dekonstruiert: Die Dokumentation löst sich in ihre Einzelteile auf, während eine neuabgetragene Wahrheit, eine archäologische Wahrheit, zum Vorschein kommt, eine Wahrheit unter Schichten, die nach den Schichten dessen fragt, wie und aus welchen Gründen die Kamera das filmt, was sie filmt. Währenddessen wandert der Philosoph, ein äußerst charismatischer und familiärer Großvater, hält Vorlesungen in Südafrika und besucht das (nunmehr zweite) Archiv seiner Schriften in Kalifornien. Lebensberührende Bonmots bereichern dabei einen intellektuellen Abstraktionsgrad an Weisheit, Kritik und Suche.

6 | 10

Mittwoch, 29. August 2018

Dokumentation: "David Lynch - The Art Life" [USA, DK 2016]


Bis "Eraserhead" war sein Weg bei weitem nicht vorgezeichnet. Das Künstlerleben ("Art Life") malte sich David Lynch aus, bevor er es überhaupt lebte. Kippen gehörten dazu, Kaffee. Kippen, Kaffee. Die Kippen höchstselbst tragen in "David Lynch – The Art Life" zu einer ikonografischen Gestenschau bei, zu einer zweiten Hitchcock-Silhouette: die weißen Strubbelhaare und die dampfende Zigarette in Kombination mit angestrengtem, hochkonzentriertem Sitzen. Die Kippen konnte David Lynch demnach unmöglich weglegen. Während er in ein Radiomikrofon spricht, philosophiert, frohgemut erzählt, hält er sie und zieht an ihnen. Der Rauch ergießt sich im Raum, er ist vernebelt – der Raum, aber auch der Künstler. Kaffee dagegen sieht man nirgends, dafür Coca-Cola-Flaschen und ein Glas, in dem Eiswürfel die braune Flüssigkeit bekömmlich verkühlen. Die Regisseurinnen und Regisseure Olivia Neergaard-Holm, Rick Barnes sowie Jon Nguyen haben zu keiner konventionellen Interviewstrecke geladen, die das Biografische biografisch griffbereit nachvollzieht. Sie platzieren den Künstler, Maler, Musiker, Filmemacher David Lynch auf eine Bühne, auf der sie ihn häppchenweise in seiner Erzählung inszenieren. Lynchs Blicke in die Kamera sind dabei furchtlos und scharf, gleichzeitig auch ein bisschen verwaist und lose. Mit – zumindest zeitweise – plump choreografiertem Aufwand wird dieser zartfühlende Mann im Lichte einer unverstandenen Kunstfigur beschienen. 

Hinter das, was Effekt und Stil ist, hinter das Idealglatte des Posierens, erhaschen erst Worte einen Bick. Voller offenherziger Geduld erinnert sich Lynch an die Berufung des Malens, den Disput mit seinem Vater Donald und die kleinen, großen, monströsen Missgeschicke als Quelle unbedingter Selbsthinterfragung wie, darauf aufbauend, ruckweiser Selbstentwicklung. Während der Alptraumtherapeut weniger alptraumhafte Anekdoten preisgibt, knetet er in der Zwischenzeit abgründige Bilder, surrealistische Grimassen und unfertige Wesen, bei denen das Vorbild, die Inspiration Francis Bacon offenkundig ist. Die Erotik des Berührens und Berührtwerdens ist Teil nicht nur von Lynchs malerischem Werk – Resultat einer Introvertiertheit, die sich im Geheimen und Abgeschotteten entlud, um das Geheime und Abgeschottete unverstanden zu fixieren, in ein Bild, später in "bewegte Bilder mit Ton." Zwei Wochen vor Hochschulstart verließ David Lynch nicht das Haus, er sah eines Tages eine nackte Frau auf der Straße (ein traumatisches Erlebnis, das später in "Blue Velvet" verwendet werden sollte) und eine Frau sprach ihn in Philadelphia einmal darauf an, dass ihr die Nippel wehtaten. Im Laufe seines Lebens war Lynch mit den tückischen Verkrampfungen, Pathologien und Paradoxien konfrontiert, die er in ein Atelier fiebriger Romantik und romantischer Fahrigkeit verlagerte. Das ist der, sein, David Lynchs Erkenntnisgewinn: am Leiden Lust empfinden.

5 | 10

Freitag, 24. August 2018

Dokumentation: "Neo Rauch - Gefährten und Begleiter" [D 2016]


Sie alle wollen seine Werke verstehen, die sie, mit Vorliebe, im Schlafzimmer aufgehängt haben. Sie stehen vor ihnen, versuchen das Träumen (mit offenen Augen) zu systematisieren, die Balance zwischen Mystizismus und Intimität zu artikulieren. Sie kapitulieren. Zu viele Details, "Szenarien". Einfach das Ganze betrachten. In "Neo Rauch – Gefährten und Begleiter" besucht die Dokumentarfilmerin Nicola Graef eine Reihe von Sammlern über den Erdball verteilt, die uns ihre fleißig zusammengetragenen Neo Rauchs offenbaren. Glücklicherweise verliert Graefs szenische Künstlerlithografie nicht derart viele Worte, wie sie diese Sammler verlieren – oder ein, zwei, drei, vier, fünf Museumsgäste, die sich förmlich abrackern vor jenen Interpretationsfragezeichen, bei denen lediglich der Künstler aushelfen könne. Die Bewunderer – eben die "Gefährten und Begleiter" – Neo Rauchs lassen sich nicht auf sein Werk ein, weil sie es ersticken. Den Gegenpol bildet der Maler selber. Zu Beginn schleppt Rauch eine überdimensionale Leinwand zum Ort des Geschehens, des Malens. Rauch hat Schwierigkeiten. Das Alter, das Gewicht, der Körper, kein Assistent in Sicht. Der Maler kämpft gegen sein Werkzeug, aber auch – selbstreflexiv – gegen sich. Neo Rauch präsentiert sich uns als ungeborenes Kind, das von der fragilen Kunst umarmt, geborgen werden möchte. Deshalb flüchtet er sich in die Arbeit, versinkt, trägt die Last von Gut und Böse im Gleichgewicht. 

Eigentlich müsste das Malen Rauchs Anweisungen mit Ausrufezeichen provozieren. Eine Anweisung wie: "Action!" Die vollgeschmierten Handschuhe gehören schließlich zu seinem Inventar, ebenso die vollgekleckerte Hose und die verschmierten Farbtöpfe. Es herrscht nichtsdestotrotz ein unterkühltes Verhältnis zwischen den spielerischen, eklektischen Manierismen auf der Leinwand und dem ausgebremsten, meditativen Schlafwandler, den der Künstler verkörpert, vor ihr. Zum Reden ist Rauch ohnehin nicht aufgelegt, und wenn er etwas preisgibt, dann schrauben sich die Wörter, nach denen er sucht, aus einer viel zu kleinen Öffnung heraus. Über Familiäres will er gar nicht oder nur widerwillig sprechen. Graef beobachtet ihn gebührend hypnotisch – die halluzinatorische Pinselführung, mal bedächtig, mal schrubbend, modelliert das Konkrete. Dieser Neo Rauch steckt in jeder Figur, die er lebendig werden lässt. Es sind einander unzugängliche, kontemplative Stilgeschöpfe, die stehen, dastehen. Inmitten von Journalisten, die anlässlich einer Ausstellung zum Interview geladen haben, steht Neo Rauch in ihrer Mitte vergleichbar unerschütterlich da und lässt ein paar Sätze bröckeln. Für den Kunstmarkt, die "Zahlenwelt", wie er dies nennt, ist Rauch nicht geschaffen. Er ist froh, wenn das Licht in seinem Atelier brennt und er in seine Arbeit vertieft ist, um eine Figur größer zu machen, während sein Hund Smylla zufrieden frisst. Lasst mich in Ruhe, hört auf, euch mitzuteilen. Ich male.

6 | 10

Mittwoch, 22. November 2017

Dokumentation: "JLG/JLG - Godard über Godard" / "JLG/JLG - autoportrait de décembre" [F 1994]


Allein wegen solcher tiefschönen Sätze lohnt es sich, dranzubleiben, an den Gedanken Godards, die eine transzendente Intimität fühlbar machen, schließlich verweilen, bestaunen, entschwinden: "Wenn es etwas Wahrheit in den Mündern der Dichter gibt, werde ich leben." Was zeigen diese Wahrheiten der Dichter? Was zeigt die Wahrheit Godards? Einen See, schäumendes Wasser, einen Steg, Bücher. Bücher. Und Bücher. Aus denen Godard vorliest (und er seine Haushälterin und eine aufreizend leicht bekleidete, wirr rezitierende Dame ignoriert) – eine Bild- und Tontextur. Wie üblich. Das Geheimnis, so scheint es ersichtlich, existiert außerhalb der Schrift, außerhalb dieser Bilder, nicht in dem, wofür diese Bilder stehen, sondern in dem, wofür sie nicht stehen. Wenn Godard über Godard spricht, säuselt eine gebrochene Stimme ihre Enttäuschung durch den Raum des Nichtseins, der eine staubige Energie bündelt – und dieser Staub aufgefächert wird, auf dass er sich am Boden sammelt. Geheimnisvoll drückt sich Godard höchstselbst vor dem Bild, er ist selten frontal zu sehen. Er sitzt schemenhaft am Kamerarand, undeutlich erschlagen, steht in weiter Ferne, nur die Brille deutet auf ihn, den Brillenmenschen zwischen früherem Konfrontationsgenie und jetziger Altersschwermut. Die Brille. Der Stuhl. Das Denken sei ein Stuhl, so Godard. Einfach und kompliziert. Verflochten eben. Der reisende, denkende, frierende Mensch.

6 | 10

Freitag, 17. Februar 2017

Dokumentation: "Francofonia" [F, D, NL 2015]


Jean-Luc Godard hält diese tote Gattung am Leben, packt sie am Schlafittchen, unterminiert gleichzeitig die Unterhaltungssentenzen des Kinos. Wenigstens er. Der assoziative Essayfilm gerann unter seiner Regie (oder: Nichtregie) zu einem explosiven Meinungsgemisch, zu einem zittrigen Gewusel aus Reflexionen und Störungen. Mit "Francofonia" kehrt der Essayfilm für eine überschaubare Anzahl an Zuschauern zurück in den Mittelpunkt des Interesses. Über Geschichts- wie Weltverschränkungen hinwegtosend, besucht Aleksandr Sokurov nach der Eremitage ("Russian Ark") nunmehr den Pariser Louvre, erzählt auf dessen Sockel die Geschichte zweier scheinbar ungleicher Männer während der Okkupationszeit der Nazis und komponiert eine Hymne an die Humanität weltkriegsüberdauernder Kunst. Wie in "Russian Ark", gleichwohl bodenständiger montiert, schwelgt der Filmemacher in kunsthistorischen Ausgestaltungen, die staunend dem Bildrand entrissen werden: in den Augen der Mona Lisa, in den Städtetotalen von Paris, in den Ornamenten metaphysischer Allgegenwärtigkeit. Wo "Russian Ark" romantische Vergangenheitssehnsüchte heraufbeschwor, so engagiert sich "Francofonia" für das Erhalten dieser Sehnsüchte.

Beiden aber ist eine entpolitisierte Fadheit eingeschrieben. Der Essayfilm hat sich verändert, entscheidend verändert. Sokurov selbst ist es, der das Publikum metareflexiv darauf hinweist, irgendwann einmal genug zu haben, genug von einer einlullenden Erzählstimme, genug vom traumwandlerischen Palaver, das Sokurov dem Bilderstrom zuführt. Die provokante, widernatürliche Kraft Godards erreicht "Francofonia" beispielsweise nie, dafür wagt er sich nirgends an ein destruktiveres Ausfransen übereinander gelagerter Tendenzen. Lieber ist "Francofonia" ganz der brave Schwiegersohn zu Besuch, der redet, wenn er reden muss, und plaudert, wenn er wieder unter seinesgleichen ist, verloren in seiner eigenen künstlerischen Emphase. Jene nachgedrehten und als Archivmaterial verfremdeten Grabenkämpfe zwischen Jacques Jaujard (Louis-Do de Lencquesaing), dem Leiter des Louvre, und Franz Wolff-Metternich (Benjamin Utzerath), dem Leiter des "Kunstschutzes", die schlussendlich eine ideologische Einigkeit herstellen sollten, weisen demgemäß wenig Erhellendes, wenig Handfestes, wenig Verschlagenes auf, tangieren durch ihre angestrengte, bleierne Ernsthaftigkeit beinah seifigen deutschen Bewältigungsmief, auf dem das zweifelhafte Prädikat "historisch bedeutsam" prangt.

Sokurovs gediegene Stoffsammlung erfreut sich nichtsdestotrotz an ihren manchmal exzentrisch wuchernden Erhebungen, sobald dieser Essay seine geschichtliche Geisteslinie verlässt. Wir sehen den Filmemacher als allegorisches Teilstück des großen Ganzen, wie er in seinem Arbeitszimmer wuselt, grübelt und mit einem Freund in Verbindung steht, der einer Containerüberfahrt beiwohnt. Angesichts des stürmischen Wetters bricht die Kommunikation ständig zusammen, ein Echo aus dem Vergangenen: die Rettung von (Kultur-)Gut bar aller Widerstände. "Zeit" hat nicht mehr länger eine chronologische, lineare Dimension, sondern eine "zerknitternde", eine "fügende", und auch im Zusammenspiel von Napoleon (Vincent Nemeth) und Marianne (Johanna Korthals Altes), die schlagartig "auferstehen" und den Wahlspruch der Französischen Republik enthusiastisch skandieren, wird deutlich, wie unumwunden Sokurov an den Gemeinsinn glaubt, Kunst zu retten und Kultur bewahren zu müssen. Aber vielleicht hätte "Francofonia" noch ein wenig mehr zu "Russian Ark" werden können, weil sich in den Überresten des visuell aufregenden, da schnittlosen Vorgängerfilms ein ebenso aufregend umrahmendes Genießen ansammelt, an den Häuserfassaden von Paris entlang zu schweben, ein Genießen im Dekor, in der völligen Zeitwillkür.

5 | 10

Mittwoch, 8. Februar 2017

Dokumentation: "Peter Handke: Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte..." [D 2016]


Peter Handke, Schriftsteller, Erzähldeuter, Brummbär, ist in dieser vitalisierend ungeschliffenen Dokumentation über sich selbst wahrlich viel zu viel im "Wald". Daraus folgt, dass er sich zwangsläufig "verspäten" muss. Peter Handke verliert sich im Naturnahen, Corinna Belz dagegen, Regisseurin, Beobachterin, Nachfragerin, im menschlich Nahen. Drehte die studierte Philosophin und Medienwissenschaftlerin mit "Gerhard Richter – Painting" bereits ein anderes stotternd säuselndes Tiefenporträt ungeahnter Nähe, das im reflexiven Augenblick der Tätigkeit zerging, so diskutiert "Peter Handke: Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte…" die sinnästhetischen Empfindungen, die zu dieser Tätigkeit führen. Das Unerklärliche überwindend, das direkt aus dem "Müssen" einer inneren Pflicht resultiert, versucht Belz, das Fühlen beim Schreiben zu theoretisieren. Obgleich ihr das nicht gelingen mag – konsequent ist sie, wenn sie vollkommen ungezwungen eine Zeit einfriert, die, fernab jener Hektik, die uns sonst umgibt, ihre eigene kleine, vergängliche Geschichte schreibt.

Dafür scheint Peter Handke als Gesprächspartner ideal zu sein, ein großer Autor der "Naturmaterialität". Er schrieb und schreibt Sounds, um zum Wesen dessen vorzudringen, das unlängst abstrakt, wie ein Störgeräusch, geworden ist: die Vignetten der Gegenwart, das Konkrete des Umkreisenden. Er schreibt über die Entfremdung des Subjekts anhand seiner Umwelt. Und dieser Peter Handke lässt sich nicht in die Karten schauen, so wie sich Gerhard Richter einst nicht in die Karten schauen ließ. Literatur, das sind Bilder von Zeichen, und die collagenhaft eingeschnittenen Bilder von Handkes farbenfroh ausstaffierten Notizheften verbinden sich geistig mit Richters expressiven Farbmosaiken. Was beide Dokumentationen gemeinsam haben, liegt in ihrer meditativen Gedankenlosigkeit, zwei etwas borstigen Schlafwandlern zu begegnen, die sich im Gefühl mitteilen. Peter Handke windet sich hierbei vor der Qual der Selbsterklärung. Eine Geschichte zu erzählen, ist nichts gegen das, wenn sich die Geschichte ohne Hilfe erzählt, ohne forcierende Konflikte, wohlgesetzte Höhe- und Wendepunkte – eine Geschichte der John Fords, Yasujirō Ozus und Michelangelo Antonionis dieser Welt.

Belz setzt immer wieder den jungen Schreibanarchisten Handke und den alten Schreibsauertopf Handke miteinander in Beziehung, als der eine die überkommenen Literaturvorstellungen des Beschreibens anmahnte und der andere, gemütlich in seinem Hausdomizil sitzend, das Beschreiben seiner selbst sabotiert. Denn viel lieber schneidet der alte Handke garteneigene Pilze, lobt den mystisch-fleischlichen Klang dieses Vorganges, zerhackt Äste und dekoriert den Wegrand mit Steinen. Peter Handke, und dies ist wahrscheinlich auch der einzig gerechte Weg, ihn zu greifen, "liest" in dem, was nicht "Text" ist, während Corinna Belz ihm über die Schulter guckt: neugierig, wissbegierig, hypnotisiert. Kein Schnitt oder schlagartiger Szenenübergang stört die Verschlungenheit des Vergessenen in einem altzeitlichen Selbstexil. Falls Handke widerwillig reden muss, über die Quelle seiner Arbeit, über Biografisches, dann stopft er die Sätze heraus und es manifestieren sich, zusammen mit seiner Tochter, irrelevante Banalitäten wie eine neu gekaufte rote Jacke. Das wirklich Wichtige nämlich, das wird zwischen dem Text erfahrbar, in der Erfassungsbeschreibung.

6 | 10

Mittwoch, 26. Oktober 2016

Dokumentation: "Picasso - Bestandsaufnahme eines Lebens" / "Picasso, l'inventaire d'une vie" [F 2014]


"Picasso – Bestandsaufnahme eines Lebens", so der deutsche Titel dieser Dokumentation, hebt einen Schatz für alle Picasso-Liebhaber, für solche, die es werden wollen, aber auch für alle Bewunderer eines unerschütterlichen Erbes: Einen monumentalen Materialstapel getriebener Inspiration hinterließ Picasso, als er starb. Dem Wühlen kindliche Aufmerksamkeit widmend, dem Auskundschaften, dem, nun ja, dem Staunen per se, ist "Picasso – Bestandsaufnahme eines Lebens" ebenso biografische Abhandlung, das in Stichpunkten ästhetische, moralische wie historische Phasen tiefer Wahrheitserzählung zu einem dialektischen Hintergrund kontextualisiert. Wenngleich Hugues Nancy voller sublimer Ehrfurcht das Leben eines ungewöhnlichen Mannes nachzeichnet, das das Leben gewöhnlicher Männer überstieg, bietet er aufgefächert lehrreiche Überblicksdaten, die in ihren brav chronologisch aufbereiteten Themen zwar nie gänzlich den Duktus eines Wikipedia-Artikels abstreifen können. Aber doch können sich Schatzsucher freuen – Picassos einziges Fernsehinterview wird neben seinen Ateliers auszugsweise gezeigt, während, abseits auflockernder Anekdoten aus erster Hand (über, zum Beispiel, Picassos Frauen, die für ihn in mehrfacher Hinsicht essentiell waren), insbesondere der methodische Simplifizierungsprozess eines gemalten Stiers zu Strichen und Kanten Picassos Philosophie kulminieren lässt, aus dem Vorhandenen stets das Reine und, im Zuge dessen, das perspektivisch Ungekannte abzuschöpfen. So ungeheuerlich, wie sich Picassos Vermächtnis über die Geschicke der Vergangenheit erhebt, so ungeheuerlich schallte es aus diesem flüsternden Formensucher.   

6 | 10

Freitag, 23. September 2016

Jarmusch-Retro #7: "Year of the Horse" [USA 1997]


Backstage-Making-of-Konzertmitschnitte wie "Year of the Horse" geben selten vielsagende Einblicke. Größtenteils entpolitisieren sie komplexe Zusammenhänge. Auch Jim Jarmusch, der liebevoll als pseudohipper Regieguru aus NYC wahrgenommen wird, bittet zur Teestunde hinter der Bühne. Eingeladen: Neil Young mitsamt seiner Band Crazy Horse. In den anschließenden knapp zwei sympathischen Stündchen befragt Jarmusch diese unprätentiösen, losgelösten Scherzkekse; über die Epik der Rock'n'Roll-Schmuseschnulze, freigeistige Überzeugungen und vergängliche Impressionen teilen sie eine gemeinsame Erfahrung, als Musik noch Transzendenz entstehen ließ – und alle Seelenpein reinigte. Daneben begleitete Jarmusch das Ensemble bei dessen 1996er-Tournee, filmte streitlustigen Meinungsaustausch sowie präpubertäre Faxen, schickte vor allem aber die Kamera in das Gedränge der Publikumsmasse einer halbreligiös scheppernden, gleichgeschalteten Tagung. In diesen Massenaufläufen, wie sie kollektiv auf Reize des Hochgenusses reagieren, entwirrt Jarmusch die energetische Explosivität einer Musik, die parallelisiert wird mit Bildern aufgebrochener Wolkenformationen, einer Verfolgung also des Unbestimm- und Fühlbaren, das etwa während Neil Youngs aufschäumenden Gitarrensolos vollends kulminiert. Ebenfalls (Zeit-)Reise und Bestimmungsverortung, wappnet sich "Year of the Horse" mit den Ingredienzen des Jarmusch-Kinos und expediert sie.

5 | 10


Originaltext

Mittwoch, 3. August 2016

Dokumentation: "Gerhard Richter - Painting" [D 2011]


Wer ist Gerhard Richter? "Gerhard Richter – Painting" vermag darauf keine Antwort zu geben. Wie auch? Corinna Belz ist nicht an einem kunsttheoretischen Traktat interessiert, stellt gar, wenn sie sich darauf einlässt, meist lapidare Fragen, die von völligem Nichtverständnis gekennzeichnet sind, sondern an der bestialisch vertonten Alltäglichkeit des Schöpfungsaktes: Farben mischen (lassen), Ausstellungen organisieren, Motive finden. Und Gerhard Richter? Er spricht in Ellipsen, vereinzelte rausgepresste Satzteile sind das. Teile übergeordneter Strukturen. Er kann nicht ausdrücken, was seine Malerei "will". Er "weiß" das. Malerei, so Richter, sei ohnehin anderen Denklinien unterworfen, anderen als jene, die Ziele und Beweggründe verschriftlichen. Die Kunst Richters, elementare Modulationen von Wahrheit in unfertigen Naturabstraktionen, kann sich ebenfalls nicht "aussprechen", weil Richter nach Plan malt, der jäh stoppt, wenn das Bild in sich perfekt (oder "frei") ist. Belz' unnatürlich intime Dokumentation macht das Zerstören sichtbar, den reinen Augenblick der Brutalität – Richter zerreibt, zerkratzt, verteilt und matscht, und die Geräusche, die hierbei diesen prähistorischen Vorgang akzentuieren, dürfte man anderswo eher in einem Mastbetrieb vermuten, so fleischlich lebt und liebt Richter rastloses Malen. Zeitweise betrachtet, konkretisiert sich "Gerhard Richter – Painting" zur voyeuristischen Fortführung von Clouzots "Picasso"-Film. Das Denken sei der Sichtbarkeit der führenden Hand überlassen, das Endresultat ein Gedanke davon.

6 | 10  

Mittwoch, 6. Juli 2016

Dokumentation: "Rembrandts Nachtwache - Geheimnisse eines Gemäldes" / "Rembrandt's J'Accuse...!" [D, FIN, NL 2008]


Peter Greenaway vergleicht die Bedeutung von Rembrandts "Nachtwache" mit ikonografischen Bildern wie der "Mona Lisa", "Das letzte Abendmahl" und Michelangelos Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle. War "Nightwatching" Greenaways gewagter Versuch, auf Zwang basierendes Schöpfertum, das zu Rembrandts künstlerischem wie sozialem Niedergang geführt hat, als theaterhaftes, obszönes, zuweilen kriminalistisches Monumentalgerangel zu verfremden, schob er einige Zeit später diese Dokumentation nach, um sich der "Nachtwache" analytisch zu verschreiben: 31 Rätsel untersucht Greenaway, fungiert selber als fachkundiger Kommentator, Interpret und gewitzter Befrager. Rembrandt, so Greenaway, brach mit der Tradition zeitgenössischer Kompaniestillleben: künstliches Licht, Teufelsverkleidungen, homoerotisch-phallische Symbolismen; "Nachtwache" – eine codierte Mordverschwörung und eine Hand zum Betrachter, die dazu auffordert, die relevanten Schichten unter den irrelevanten investigativ abzutragen. Greenaways These, die meisten Menschen seien "visuelle Analphabeten", entkräftet seine didaktische Beweisaufnahme wider Erwarten, denn so erhellend wie sein Bildaufsatz strukturiert ist (der Regisseur wird als Expertenstimme zentralisiert eingeblendet), so groß ist die Lust, auf anschließende Bilderkundschaft zu gehen. Auch wenn ein paar seiner Ansätze steile Behauptungen sind (Rembrandt ehre Velázquez, indem er manchen Akteur wie ein Zwerg gestaltete), schwelgt Greenaway obsessiv in der Anmut niederländischer Malerei, in der mehr zu stecken scheint, als es die unwiederbringliche Finsternis der "Nachtwache" zulassen will. Rembrandts verstecktes Auge blickt auf uns.        

6 | 10 

Freitag, 1. Juli 2016

Dokumentation: "Picasso" / "Le Mystère Picasso" [F 1956]


Liebevoll führt der Maler den Pinsel. Er schreibt Schöpfungsgeschichte, das Kind, seine Eltern, eine Familie; das Licht katapultiert sich aus der Dunkelheit bemalter Abschnitte. Henri-Georges Clouzot lockte Picasso, den Picasso, vor die Kamera. 20 Bilder sollte er umsetzen, überschreiben, nachkorrigieren, organisch entwickeln – avantgardistische Strichvernetzungen, kubistische anatomische Verzerrungen und farbexplosive menschliche Panoramen. Clouzots "Picasso" wird Picasso auf ungemein ehrliche Weise gerecht, denn er veranschaulicht und figuriert einen anstatt erschöpfend theoretisierenden eher praktisch nachweisbaren Prozess, das Innere im Äußeren auszudrücken. Der Kunst des oberkörperfrei arbeitenden, wuselnden Spaniers, gleichfalls aber auch der Kunst des Schaffens per se, verleiht Clouzot die nötige obsessive Energie, damit aus Strichen Bedeutungseinheiten werden. Diese hypnotisierende Dokumentation bildet aber nicht ausschließlich ab. Ab und zu konterkariert Clouzot die meditative Struktur seines Kunstessays: Etwa zur Halbzeit kippt dieses in einen Thriller, sobald der Regisseur (Clouzot) den Künstler (Picasso) anweist, in wenigen verbliebenen (Filmrollen-)Minuten das derzeitige Bild zu beenden und der Schnitt die Zeit verkürzt. Picasso indes kommentiert vereinzelte Werke – ohne sich allzu viel erklären zu müssen. Die "Erklärung", die "Beantwortung" sowie das "Lückenstopfen" hingegen muss der Betrachter für sich finden. Picasso war kein Suchender, sondern einer, der bereits dann gefunden hat, wo andere noch die bloße Idee zu packen versuchten.

6 | 10

Freitag, 15. April 2016

Dokumentation: "Thomas Pynchon: A Journey into the Mind of [P.]" [D, CH 2002]


Wie einen Schriftsteller porträtieren, der als Phantom durch die Postmoderne geistert? Keine Adresse, ein Interview, ein nicht quellensicheres Bild. Die einzigen Spuren Thomas Pynchons liegen in seiner Literatur: in intertextuellen Kopplungen zwischen lexikalischem Wissen und fragmentarischen Gedankensprüngen. Thomas Pynchon, Wegbereiter semiotischer Erzählungen im seitenverkehrten Nichts, möchte nicht gefunden, offengelegt werden. Und auch wenn das damalige Apartment in San Francisco auffindbar ist, heißt es noch lange nicht, dass der Neumieter uns Zugang gewährt, um wenigstens einen Hauch Pynchon zu spüren, einen Parfumnebel Literaturgeschichte zu erschnuppern. In überveranschlagten 90 Minuten erzählen Donatello und Fosco Dubini eine kreisförmige Geschichte, die zurück zum Anfang geleitet. Denn Pynchon konnten sie nicht finden. Nur Kritikerstimmen, Lob, Nostalgie, Zeitgefühle, verwirrende Vergänglichkeiten. Manisch montieren die Regisseure historische Filmaufnahmen amerikanischer Innen- und Außenpolitik aneinander, die mit Nixon und Vietnam einst den Ausgangspunkt für Pynchons subversive, ja wütende Metagewebe gebildet haben. Zum Großteil schlimmstenfalls oberflächliche, laufzeitstreckende Paralleleinschübe, verabschiedet sich diese Dokumentation allerdings flott davon, anstatt in die Psyche Pynchons eher in der Suche nach Pynchon erhellende detektivische Momente einzustreuen. "Thomas Pynchon – A Journey into the Mind of [P.]" darf andererseits als einer der einzigen Versuche gewertet werden, einen legendären Geist zu materialisieren. Im Märchen gebe dieser Versuch spannende Kinderunterhaltung ab.

4 | 10

Freitag, 11. Dezember 2015

Dokumentation: "Hitchcock/Truffaut" [F, USA 2015]


Truffaut konnte nicht ohne Hitchcock – und Hitchcock nicht ohne Truffaut. Sie entstiegen zwei künstlerisch gegensätzlichen Welten, trafen sich aber am gemeinsamen Berührungspunkt kreativer Arbeit, mit dem Publikum intim zu werden. Genau wie Hitchcock und Truffaut kommen aber auch Martin Scorsese und Peter Bogdanovich aus einer anderen, vielleicht lustvolleren Generation an heißblütigen Filmemachern, die ihre Zuschauer einfallsreich erziehen wollten. Dies schlägt sich in "Hitchcock/Truffaut" nieder – sich eloquent mit Scorsese und Bogdanovich zu erinnern, Filmgeschichte romantisch anzuhauchen und ihr manchmal gar ansteckend nachzutrauern, ist etwas anderes, als ihr lediglich mit den einfallsarmen, papiernen Worten David Finchers und Wes Andersons zu huldigen, unserer Generation. Getreu des Titels "Hitchcock/Truffaut" springt Kent Jones' reflexiv-gewissenhafte sowie liebreizend-charmante Dokumentation – die visuelle Präsentationsform mäandert zwischen den Splittern von "Psycho" und den Farben von "Vertigo" – über die legendäre Interviewstrecke und die noch legendärere Filmbibel François Truffauts, um die (Kino-)Architektur Hitchcocks analytisch zu umreißen.  Gerät Jones' Anliegen partiell aus der Spur des Hauptschwerpunktes (im Grunde ist für Truffaut schlicht überhaupt kein zusammenhängender Erzählplatz), so dürften sich all' jene im Recht fühlen, die in Hitchcock mehr als einen begnadeten Spannungshandwerker sehen, ein "Auge des Jahrhunderts", das immer besser wusste, wie transzendente Bildermächte wirken, wenn eine Leinwand damit bemalt, ja stranguliert wird.

6 | 10

Freitag, 20. November 2015

Dokumentation: "Junun" [USA 2015]


[...] Erdrückten sich viele Anderson-Filme davor unter lärmend gestaffelter (Erzähl-)Architektur, besäuft sich "Junun" viel eher an dem, durch das sich Pynchons Astralreise ins drogenumnebelte Nirwana auszeichnete – am spirituellen Nichts, an der chilligen Momentaufnahme, die Füße hochlegen zu können. Und fremdländischer Musik zu lauschen. Anderson filmt (wie vor ihm Wim Wenders und "Buena Vista Social Club") vereinzelte, statisch umkreisende Musikproben und symbolisch genuschelte Anekdoten, begegnet dem Klang einer frenetischen Zivilisation mit gleichfalls distanzierter wie geduldiger Leidenschaftlichkeit, ohne sie aus dem Off zu analysieren. [...]


Freitag, 11. September 2015

Dokumentation: "Im Schatten des Dritten Mannes" / "Shadowing the Third Man" [GB, Ö, F, J, USA 2004]


Kurzweiliges Bonusmaterial zum "besten britischen Film aller Zeiten". Ein ausgewogen typisches, Lobhudelei für Lobhudelei ratterndes Making-of ist "Im Schatten des Dritten Mannes" aber nicht. Selbstverständlich – David O. Selznicks drogensüchtige Rastlosigkeit, Hollywood nicht zu verschlafen, Anton Karas' folgenschweres Zitherspiel, Orson Welles' breitätzendes Gift, Graham Greenes scharf ausgetüfteltes Recherchedrehbuch, das Carol Reed an frappanten Stellen änderte; derlei Anekdotengehorsam jener Geschichten, die sich zu einem Element des Produktionsprozesses erhoben, schwingt mit, zu unverzichtbar, die bei einer kühlen Nacht während des Kaminfeuers lodernde Sage eines (weithin zerstrittenen) Teams, das aus heftigen Meinungsreibungsflächen zusammenwuchs. Viel Informationsmaterial abseits des Vertrauten und Ikonografischen diskutiert "Im Schatten des Dritten Mannes" nicht. Die Filmsequenzen sind lang, die Zeitzeugenberichte rudimentär, die Entschlüsselung des Anschauungs(film)objektes allgemein und nostalgisch, nicht analytisch und waghalsig. Hintergrundkenner und Faktenfreaks  werden nicht auf ihre Kosten kommen, denn diese Dokumentation  erzählt "Der dritte Mann" einfach noch einmal nach – und morpht dabei von einem Schauplatz auf den anderen, überstülpt die Kulissenattraktionen des Films auf das Hier und Jetzt, klatscht Szenen und Sequenzen an wirksame Kuriositäten. Es ist ein Making-of der gespiegelten, assoziativen Wiedergabe aus der Gegenwartssicht geworden. Die Schatten, Texturen und der Fassadenästhetizismus korrelieren mit einem Kanonfilm, dessen seinerzeit expressionistisches Nachtlicht dem Wasserglitzer des Asphalts seine Geltung verdankt. 

5 | 10

Mittwoch, 9. September 2015

Dokumentation: "Orson Welles: The One-Man Band" [D, F, CH 1995]


Vielleicht war die Zeit noch nicht reif für Orson Welles, noch nicht reif für seine provozierenden Zauberkunststücke (wie der von Studioseite rabiat kastrierte Fake-Trailer zu "F wie Fälschung"). Welles, nicht der museumsreif ausgestellte, rätselhafte Mythos, sondern der füllige, einschüchternde Mensch, war ein Getriebener seiner stets preisenden und parallel ausgetragenen Projekte, allen zu zeigen, dass er wenigstens eins ohne Diktat beenden kann. Der Kunst der Reduzierung, die das Kino ihm gab, wurde er damit unfreiwillig in verschiedener Weise gerecht. Um die unabgeschlossenen Arbeiten, um die Fragmente aufzustöbern, die geblieben sind von einem umtriebigen Geist mit Zigarre, dem "Citizen-Kane"-Schöpfer und surrealem Maler, meldeten sich Welles' langjährige Lebensgefährtin Oja Kodar und der Regisseur Vassili Silovic, in den Nachlass (von Xanadu) hineinzuschauen: Skizzen, Karikaturen und bislang verstaubte, aufgestapelte Filmrollen. Das Inventar, das "Orson Welles: The One-Man Band" (zum Teil zu unersättlich) ausgräbt, ist imposant – humoristisch eher plumpe Sketchversuche, vergnügliche Archivaufnahmen (Welles stellt sich den wortklauberischen Fragen vor einem neunmalklugen Publikum) und krumme Rezitationen berühmter Literaturklassiker, die in seinen (geplanten) Filmen entweder gestrichen oder verschwunden sind. Über Orson Welles selber verbündet sich die Dokumentation mit dem Altbewährten  – sie reiht sich ein in jene, die essayistisch einer Collage an Erinnerungen folgen und ein künstlerisches Erbe wachrufen.     

5 | 10

Freitag, 6. März 2015

Dokumentation: "The Reaper" / "La Parka" [MEX 2013]


[...] Gabriel Serra Arguellos schlichter Dokumentarkurzfilm drängt sich mitunter insofern auf, Begründungsmonologe im philosophischen Altpapierformat zu liefern, die trennen sollen vom Leben einerseits und andererseits. Auf die Bildertexturen hingegen versteift sich "The Reaper" formidabel – ab dem Moment nämlich, wenn die systematisch, ja kunstvoll puritanisch gefilmte Zielbewusstheit der Arbeitsschritte das Töten von Tieren wiedergibt, das Hautabziehen, das sturzbachstromartige Blut, die aneinandergehängten Körper, der Dreck unter den Fingernägeln, das tonbeständige Rumoren der Fabrik, bildet der Film physische, herbe Wahrheit ab, das eine für das andere zu opfern. Hierzu hätte der Regisseur auf die überplanmäßige Ästhetisierung der Fleischüberreste verzichten können, von roten Spritzern zu aufgeschwemmt roten Pfützen einen seriellen Zersetzungsfortgang pointiert zu timen. [...]


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Mittwoch, 4. März 2015

Dokumentation: "White Earth" [USA 2014]


[...] Die Nominierung für den Oscar zum Besten Dokumentarkurzfilm 2015 überrascht nicht. Erbauende Offenheit, getragene Verbundenheit, ein, zwei auflockernde Kalauer zwischendrin: "White Earth" erzählt einen Ausschnitt Amerikas jenseits seiner glitzernden, gigantomanischen Konsumwelt nach, der zwar zum Glück nicht unbedingt den letzten Schritt zur predigenden Spiritualität vollzieht, aber von innen heraus, aus den unbeschwerten Beobachtungen von Kindern und Migranten einer Arbeiterschicht, eine politisierte Naivität anstößt, die im Öl ein Spannungsfeld nachzuweisen versucht. Natürlich konsensgerichtet, natürlich abwägend, natürlich kantenlos. Trotzdem wirkt der Film sympathischerweise nicht wie aus einem Guss oder wie flacher Sozialkitsch – die infantilen Kommentare aus dem Off, erzählklammernde Scharniere über Vergangenheitsangst und Zukunftshoffnung, behalten etwas Ungeniertes, Saloppes, Entkrampftes bei, das glaubwürdig statt chemisch die wirtschaftsökonomische Umgestaltung der Landschaftskunst für wichtig erachtet.


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Montag, 5. Januar 2015

Dokumentation: "National Gallery" [F, USA, GB 2014]


[...] Aber auch wenn Wiseman im anbrechenden letzten Lauflängendrittel der üppigen Kunstsammlung der National Gallery konkret (und nicht zu maulfaul) den Vorzug gewährt, dringt er zwangsläufig interessanterweise in hermetisch abgeschlossene Bereiche vor, die sich synchron zum Besuchergeschäft hinter den Kulissen unromantisch verselbstständigen – die Minimalismusarbeit der Restauration sowie Branchenüberlegungen in brav artikulierten Debattierrunden zur progressiven Erhaltung eines Kulturapparats. Einführende, abgrenzende Worte spricht Wiseman dabei nicht. Die Kamera observiert, geht auf Tuchfühlung, nimmt die Lupe, das Mikroskop, schwere Werkzeuge, hämmert, spachtelt, ritzt, repariert und pinselt ohne Ankündigung, Leitweg oder Markierung. Integriert: Grundierungsaufsätze davor und danach, versteht sich. Ausgewogen justiert auf eine wechselnde Lautstärke der Aktivitäten, wird dieses Museum, die antiquiert duftende National Gallery, als eine magnetisch anziehende Attraktionsverlockung zusammengepuzzelt, deren oberflächliche Statik, Eleganz und Dynamik des Gäste- und Kunstwerkemeers von der Derbheit, Verzweiflung und Exaktheit übertüncht wird, wie etwa den Schatten eines Bilderrahmens zu minimieren, den Firnis einer ungenügsamen Vorrestaurierung zu begutachten oder unliebsame Budgeteinsparungen zu besprechen. Kunst ist wohl doch auch Arbeit. Arbeit und Abenteuer.


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