Andere Serien waren Steine, "Twin Peaks" hingegen ein Monolith. Mein Monolith. Nach "Twin Peaks" habe ich zwar mit vielen anderen Serien gekuschelt, von denen ich teils noch liebohnmächtiger wurde, aber das Städtchen Twin Peaks bleibt für immer eine Postkartenerinnerung, deren Urwüchsiges, Aufgeladenes und vor allem heimelig Beladenes mich in wärmende Holzstuben, in die schlimmstenfalls verstellte wie bestenfalls verstrahlte Twin-Peaks-Seifenkiste, lockte. Das sonst provozierende wie knallige Kino David Lynchs entfaltete sich in Twin Peaks unerhört schüchtern, neugierig, sentimental: langatmige Rhythmen, melodramatische Seufzer, Verbrechen und Strafe unter einem Schleier des Ungefähren, dazu der ausgiebige Genuss von (verdammt gutem) Kaffee und (verdammt frischem) Kuchen. "Heil" war in Twin Peaks nur so lange etwas, bis ein roter Vorhang die Gemütlichkeiten der Runde verdeckte. Und doch war das "Suchen" ein Reifeprozess nicht nur der Figuren, auch der Serie – das Resultat derselben führte in ein erneutes Bewusstseinsrätsel, das zunehmend kosmischer die Beschwernisse der Liebe und des Hasses herausforderte.
Eigentlich handelt "The Return", ein aus 18 Episoden auseinandergestückelter Film, betitelt als die (sensationell nach 25 Jahren ein Versprechen eingelöste) dritte Staffel, ebenso von einer "Suche". Einer umgekehrten. Einer, die vielleicht nach Twin Peaks zurückwill, aber vorerst nicht kann. Oder darf. Ist das eine Schwäche, eine Stärke? Ich persönlich fühlte mich nicht heimisch. Was während der Jahrzehnte geschah, war nicht mehr mein Ort, der Kaffee abgestanden, der Kuchen abgepackt. Ich entfremdete mich von Twin Peaks, wurde hin- und hergerissen zwischen Twin Peaks und… New York und… Las Vegas, hin- und hergerissen zwischen der Wärme und der Kälte, obgleich die Wärme selbst kälter geworden ist, entschieden kälter. In den 90ern hat Lynch sein "Twin Peaks" erschaffen. Bonbonfarben, wichtig und seicht, zu ungewollter Stunde hysterisch. Ein Kind der 90er gleichermaßen, aber auch diese ironisierend wie dekonstruierend. Jetzt, 2017, begnügt sich Lynch mit einer Videoinstallation. Unnahbar, gleichwohl keineswegs entbehrlich. "Twin Peaks" anno 2017 bedeutet zuvorderst eine doppelcodierte Suche nach dem Vertrauten. Irgendetwas war da, verschüttet unter Erinnerungen.
Studie nach dem menschlichen Körper (Francis Bacon, 1949) |
Mit Nostalgie gibt sich Lynch entsprechend nicht zufrieden. Glücklicherweise. Nostalgie nachzustellen, wäre ein billiger Trick, "Twin-Peaks"-Atmosphäre herzustellen, die trotzdem anders gewirkt hätte als in den 90ern. Möglicherweise ein wenig forciert, ja verlogen. Die Sichtweise im Rahmen der "neuen" Fassade namens "Twin Peaks" ist eine nicht nur globalisierte (zahlreiche Schauplätze ergeben ein Puzzle an Überschneidungen), sondern auch eine materialistische. Während eine (Monster-)Maschine bewacht werden muss, wackelt Kyle MacLachlan als apathischer Zombie seiner selbst durch ein absurdes bürokratisches Kapitaldelirium. Ein Poster Franz Kafkas im Büro David Lynchs (der abermals den schwerhörigen Gordon Cole spielt) zeigt die Marschroute an, die Methodik, im Abstoßenden des Alltäglichen das Alltägliche des Abstoßenden zu durchleuchten, und zwar durchweg hinter dem roten Vorhang. Der Zuschauer indes schlüpft in die Rolle Dale Coopers (MacLachlan): hier ein Erinnerungsrest, dort ein Erinnerungshäufchen, aber wohlfühlen? Hier? War "Twin Peaks" 1990-1991 an den Atompilzrändern heimisch, bewegt sich das "Twin Peaks" 2017 rigoros zum Atompilzkern. Wie auf einem anderen Poster. Einem anderen Planeten.
MacLachlans übersteuerte Mimik, genauso die steif-schlurfenden Bewegungen, ist köstlich, neuerfinderisch gar. Er, der nach 25 Jahren durch eine Steckdose (!) in Las Vegas endlich den rot ausstaffierten Warte- und Höllensaal überwindet, muss sich erst an seine Umgebung gewöhnen, zu viel weicht von dem ab, woran er glaubte. Die Brutalität, die aufgeweichten Bindungen, das Triebgesteuerte. Nirgendwo mehr Romantik. Dafür allerdings gezieltes Zurechtkommen in einer monströs reglementierten, postpostmodernen Welt, in der der Kaffee portioniert in Pappbecher gehört. Und die Menschen an Spielautomaten vegetieren, den großen Ausschüttungsgewinn vor Augen, der sich nie verwirklicht. Wenn sich Cooper jedoch an die "andere" (postmoderne) Welt erinnert, anhand einer Waffe, des Kaffees vor allem, wünscht man ihm, nein: erhofft man sich die endgültige Transformation zum "echten" Dale Cooper. Zum echten "Twin Peaks" fern aller Demenz. Bis dahin ist es weit, umso emotionaler das Gewicht jener Sehnsuchtsfetzen. So denkt Bobby (Dana Ashbrook) an einer Stelle an Laura (Sheryl Lee). Auch weil Angelo Badalamenti diesen Moment schmelzend begleitet, zerfließt dieser im Wahnhaften des Gegenwärtigen – und wird wahrhaftig.
Diesmal mag "Twin Peaks" mit aller defätistischen Weitsicht eine logische Fortführung des späten David Lynch sein, den humanistischen Überzucker aufzulösen und stattdessen ein vertracktes theoretisches Zeichensystem zu etablieren, das jedes Schnittbild eine Spur zu spät verpasst, jede Szene eine Spur zu lang aufrechterhält. Mit der Feststellung einer Ballung des gesamten David-Lynch-Kosmos, wie sie sich Stück für Stück entblättert, wird man diesem "Twin Peaks" aber eher gerecht. Die Komik vieler seiner Werke maßlos übersteigernd (zum Beispiel während eines großartig getimten Pointenwettstreits am Frühstückstisch), adaptiert Lynch gleichzeitig leise Anklänge eines Hardboiled-Krimis entlang nächtlicher Straßenmarkierungen. Denn Cooper – ihn gibt es zweimal. Diese Aufspaltung scheint paradigmatisch für das Verständnis der Serie, dass Gut und Böse geografisch getrennt sein mögen, aber dennoch in der eigenen Brust walten, wann immer sie wollen. "Bad Coop" ist dabei die wilde, sinnliche Umkehrung dessen, was "Good Coop", öde, fleischlos, antreibt. Die langen, unkontrollierten Haare, der tückische Blick, das Rohe seiner Gewalt – war dies 25 Jahre vorher vom Nichtechten aufgefangen worden, ist es nun die Welt als solche.
Eine gänzlich naturalistische Deformation des Magischen (oder: des magischen Realismus, je nachdem) sah Lynch aber auch nicht vor. Die ersten neun Folgen sind irritierend genug, gerade in ihrer Ambition, das Geheimnis (per Glockenschlag) zu lüften. Der Gefahr der Entmythologisierung setzt sich Lynch folglich aus, sicher. Sobald Dämonen das Gefüge erschüttern, hat der kraushaarige Avantgardist weitaus mehr handwerkliche Möglichkeiten, dies zu zelebrieren. Selten kippt "Twin Peaks" hierbei ins Künstliche. Wie bei einem sprechenden Baum. Häufiger betont er hiermit vielmehr die ewige liebesgeschichtliche Verschmelzungsdialektik der Reinheit mit der Zersetzung: Bob (ehemals Frank Silva) und Laura (Lee) vervollkommnen sich zu deterministischen, überirdischen Konstrukten. Sie, die (in einem hemmungslos romantischen, buchstäblich naturreinen Tableau) auf die Erde geschickt wurde, um den Widerpart von ihm zu verkörpern. Die Abschirmungsmaßnahme gegen den Urknall. Der erschöpfend diskutierte achte Part beschwört eine Seinsvergessenheit, wie sie nie im Fernsehen derartig zu sehen war.
Das mikrofeine Gewusel, die blitzartigen Wirbel, das Partikelgestochere, als wenn Lynch eine Brakhage'sche Reagenzglasbrühe zusammengebraut hat und deren Reaktion betrachtet: Konnte "Twin Peaks" Gut und Böse anhand eines ländlichen, affirmativen Naturlebens beurteilen, das unter Zugzwang gerät, wenn die Idylle zu idyllisch wird? Ja, konnte es. Aber das reicht Lynch nicht, zumindest jetzt nicht (mehr). Laura Palmer, einst Chiffre für das Unsagbare, für das Unfassliche, für die Wolke, die einen blauen Himmel verschmutzt, ist Lynchs Aufhänger, das Gute, gleichfalls wie das Böse genealogisch zu erforschen – und hiermit "Twin Peaks" an dessen Wurzel zu packen, herauszureißen quasi. Ob mir das gefällt, tritt hinter den Reigen, den Lynch entfesselt. Im All, auf einer Glocke, in irrealen, stockenden, aufplatzenden Schwankungen, Störungen, Entgleisungen. David Lynch möchte uns nach Twin Peaks bringen, ohne dass wir uns gleich in Twin Peaks einrichten können. Zugleich will er "Twin Peaks", auch Twin Peaks verstehen (lernen), Ungeklärtes klären, die Lücke schließen, beispielsweise die Diane-Lücke. Lynch wendet sich der Universalsprache zu.
Der in Part acht prominent platzierte Käfer steht zweifellos für eine Metamorphose, die in mehrfacher Hinsicht das Glück dieses Revivals bedeutet. Älter geworden sind viele, unsere, meine Schauspieler (Dana Ashbrook), Figuren (als Polizist!), Menschen. Viele von ihnen bereichern nicht mehr Twin Peaks, sie bevölkern es. Nebenbei. Das Spielfeld ist größer, Bedeutung, Sein überall. Aber das Älterwerden, die Verwandlung hinderte Lynch nicht daran, mit bis zum Anschlag aufgedrehtem Subwoofer einerseits wagemutig, andererseits voller tröstlicher Offenherzigkeit eine Persiflage zur Parabel auszuweiten – nicht in einer Farbe, in einem Ton. In Tönen innerer suggestiver Logik, wie sie Diane (Laura Dern) als Nagellack trägt. "Twin Peaks" in diesem Mythenkarussell wiederzusehen, tat weh, weil die Serie, die ihren Erlebnishorizont gar zu steigern vermochte, den Boden damaligen Saatguts aufreißt. Daraus resultierte ein experimentelles Vervielfältigungsprozedere, das Narzissmen freisetzt, gleichwohl seltsamerweise statt einer Form anfänglichen Heimwehs einen Kompromiss von einem, gewohntermaßen, heimtückischen Ersatzzuhause vorschlägt. Angenommen.