Montag, 15. Dezember 2008

Literatur: Hannibal (Thomas Harris), 1999


Story:

Sieben Jahre sind vergangen, seit Dr. Hannibal Lecter aus der Haft geflohen ist, sieben Jahre, seit Special Agent Clarice Starling ihn im Hochsicherheitstrakt der Strafanstalt für geistiggestörte Straftäter interviewte. Im Austausch für Informationen über den Serienkiller Buffalo Bill musste sie Dr. Lecter die Geheimnisse ihrer Seele offenbaren. Seit dieser Zeit ging es mit ihrer Karriere beim FBI bergab. Ihr Feind im Justizministerium will sie nach einer spektakulär missratenen Razzia endgültig kaltstellen, da wird sie wieder auf den menschenfressenden Psychiater angesetzt. Denn Clarice Starling ist die Einzige, die ihn wirklich versteht. Sie soll ihn finden, doch sie ist nicht die Einzige, die fieberhaft nach Hannibal Lecter sucht. Mason Verger, von Dr. Lecter grausam verstümmelt, hat ein Kopfgeld auf seine Ergreifung ausgesetzt, und sinnt nun auf Rache. Die große und letztlich sogar grausame Suche nach Dr. Hannibal Lecter kann beginnen...

Kritik:

Mit "Hannibal" findet Thomas Harris´ Reihe rund um den kannibalistischen Massenmörder Dr. Hannibal Lecter seinen Abschluss. Vorläufig. Denn einige Jahre später folgte trotzdem noch ein weiterer Roman: "Hannibal Rising", der allerdings mehr Auftragsarbeit, ja, mehr schlecht als recht war. Ob nun "Hannibal" letztlich auch als eine von solchen Auftragsarbeiten fungierte – immerhin fand Harris in "Das Schweigen der Lämmer" einen guten Abgang -, sei mal dahingestellt. Fakt ist jedoch, dass sich "Hannibal" sowohl stilistisch als auch narrativ auf einem komplett anderen Terrain bewegt, dass der Roman sich ganz einfach von dem Prinzip „Polizei jagd Serienkiller“, welches in den zwei Vorgängerwerken Anklang fand, entfernt und sich der Autor stattdessen auf Gesichtspunkte stützt, die für neuen Schwung und Abwechslung zu sorgen haben. Da gibt es beispielsweise zum einen diesen Fleischer Mason Verger, diese obszöne Kreatur, einer der einzigen Überlebenden Lecters, der sich seine gesamte Gesichtshaut mit einer Glasscheibe vor den Augen Lecters abziehen musste. Gleichzeitig nimmt Mason Verger aber auch die Stellung der dritten Person im Figurengeflecht ein, anstelle des ansonst so obligatorischen Serienkillers, um sich in erster Linie an seinem ehemaligen Psychater zu rächen, der sich irgendwo in Florenz herumtreibt. Verger hat dabei alle Fäden in der Hand. Obwohl der schwergezeichnete Mann, einzuordnen irgendwo zwischen Mensch und Tier, an sein Bett gefesselt ist, vermarg er es dennoch, alles und jeden zu kontrollieren, alles daran zu setzen, Lecter zu finden und zu vernichten. Selbst mithilfe des FBI und der italienischen Polizei. Auf diese Konfrontation stützt sich "Hannibal" im Wesentlichen. Geschickt versucht die eine Partei, die andere auszuspielen. Geschickt und raffniniert entwickelt Harris einen Plot, der von all seinen Büchern wohl am verworrensten daherkommt.

Verworren in dem Sinne, weil der Autor die Story zum Teil mit komplexen Nebenhandlungssträngen versieht. Nuancenreiche Handlungsstränge, die zum Teil auch in anderen Städten spielen, so wie die Florentinergeschichte. "Hannibal" taucht aber auch mehr in das Seelenleben seiner Protagonisten ein. Sei es nun dieser mysteriöse, handlungsvorantreibende Mason Verger, dessen Skizzierung als rund um gelungen zu konstatieren ist, ober eben – und das ist das wohl Markanteste – Dr. Hannibal Lecter. Erstmals erfährt man als Leser einen Teil aus seiner Vergangenheit, ferner aus seiner Kindheit und lernt die damit verbundenen schrecklichen traumatischen Erlebnisse kennen. Sein weibliches Pendant Clarice Starling macht natürlich auch eine Wandlung durch, jetzt ist sie nicht mehr der Star unter den hiesigen Polizeibehörden, plötzlich wird sie für ihre unprofessionelle Art und Weise von ihrem Arbeitgeber verhönt und gar durch den Dreck gezogen, avanciert demnach zur rebellischen Einzelgängerin. Das alles verpackt in einer über 500 Seiten starken Handlung. Dass "Hannibal" dabei gewisse Längen beherbergt, müsste eigentlich klar sein. Das manifestiert sich vor allem in Harris´ Ausflug nach Florenz, der stellenweise einfach zu viel ausschweifende, historische Detailverliebtheit an den Tag legt und somit einiges an Spannung einbüßt. Harris nimmt sich viel Zeit für seinen Dr. Hannibal Lecter, für die Zeit nach seinem Gefangnisausbruch, er erforscht seinen Geist, seinen Intellekt sehr intensiv und sprachlich ungemein anspruchsvoll, ja, poetisch, in blumiger Prosa. Desweiteren ist es gerade die durchaus amüsante, pointierte Art, wie der Autor zum einen die koketten Akademiker in Form des korrupten FBI oder Dr. Doemling, zum anderen die Regenbogenpresse in Form des "National Tattler" und "La Nazione" genüsslich durch den Kakao zieht und nebenher ein gehöriges Maß an Selbstironie entfesselt.

Im Gegenzug wird man dann aber den Gedanken einer Auftragsarbeit speziell am Schluss nicht los, der so aprupt und inspiriert daherkommt, als wenn Thomas Harris schnell das Buch zu Ende bringen wollte. Die Vorstellung, Lecter und Starlin, der Kannibale und die ehemalige Poilizeiheldin vereint als Paar, welches imposant gekleidet durch die Opern von Florenz marschiert, ist in seiner Summe schon starker Tobak und definitiv zu fantastisch, zu aufgesetzt gewählt. Hier verlässt der Roman seine vorher konsequent durchgezogene realistische Linie und findet sich stattdessen irgendwo zwischen Klamauk und Lächerlichkeit, zwischen Unglaubwürdigkeit und mangelnder Intelligenz ein, auch wenn Harris auf den vorherigen Seiten die letztendlichen Geschehnisse zu erklären versucht, was ihm aber nicht so recht gelingen mag. Dass "Hannibal" bezüglich seines storytellings in anderen Sphären wandelt, dürfte eigentlich schon der Inhaltsangabe nach offensichtlich sein, die Messlatte hinsichtlich der Brutalität wird von Harris aber noch ein ganzes Stückchen höher gelegt. Die Gewalt in "Hannibal", sie ist roh, dreckig, subversiv, die ganze Handlung lebt mehr oder weniger von ihren sonderbaren Geschmacklosigkeiten, Verstümmelungen und expliziten Blutbädern, bei denen der Autor dennoch vor allem durch eines besticht: Zurückhaltung. Und durch Kreativität. Da werden beispielsweise Leichen gezüchteter Schweine zum Fraß vorgewurfen, da werden Nasen von Muränen gefressen und schlussendlich noch in einem der denkwürdigsten Augenblicke das menschliche Gehirn als Abendmahl, als Hauptgang serviert, sodass man selber Appetit bekommt. Für Zartbesaitete ist dieses Buch de facto nichts, es gehört schon gar nicht in Kinderhände.

Fazit:

Wäre "Hannibal" denn nun dringend erforderlich, gar zwingend nötig gewesen oder eher nicht? Auf den ersten Blick sicherlich nicht, dafür sprechen einfach zu viele Dinge, die "Hannibal" mit unnötigem Ballast aufblähen. Harris erzählt einige Dinge viel zu detailliert, der Roman als solches ist darüber hinaus lange nicht so intelligent wie ein "Roter Drache" oder so spannend wie ein "Das Schweigen der Lämmer", von etwaigen Unglaubwürdigkeiten seitens Dr. Hannibal Lecter (rot glühende Augen), der zudem auch alle Opern zu kennen scheint und dem gänzlich misslungenen Schluss ganz zu schweigen. Trotzdem ist "Hannibal" in seiner Summe immer noch exzellent geschriebene Leseunterhaltung der besonderen Art, gewürzt mit reihenweise Psychopathen und Ekel, sodass man einen starken Magen mitbringen sollte.

7/10