Erst durch seine psychologische Charakterstudie "Das Schweigen der Lämmer" erlangte Thomas Harris endgültig die Aufmerksamkeit der Leser, ja die Anerkennung mehr oder weniger renommierter Literaturkritiker. Das Buch, der Mittelteil von Harris' vorläufiger Hannibal Lecter-Quadrologie, avancierte schnell zum Weltbestseller, verkaufte sich international in hohen Zahlen; die Verfilmung schrieb darüber hinaus Geschichte, die mehrfach oscargewürdigt wurde. Man sollte sich aber dennoch nicht vom Film und seinen zahlreichen Preisen ablenken lassen. Das Buch sollte man genauso gelesen haben, denn mit "Das Schweigen der Lämmer" schuf Autor Thomas Harris, ebenso wie Regisseur Jonathan Demme höchst effektives Thriller-Kino, das durchaus als eines der besten seines Genres in den 90er Jahren gelten kann.
Und das, obwohl Harris eine im Kern gleiche Geschichte erzählt, die der in "Roter Drache" erstaunlich ähnelt. Nur dass der Serienkiller jetzt Jame Gumb heißt, ein Frauenmörder mit einer eigenartigen Affinität zu Schmetterlingen, der seine Opfer nach deren Haut und Kleidergröße auswählt, um sich ein eigenes "Kostüm" damit anzufertigen. Doch die Geschichte von Gumb ist eher nebensächlicher Natur – sein Psychogramm, seine Konturen, sind längst nicht so gründlich ausgearbeitet wie die von Francis Dolarhyde aus "Roter Drache". Es ist vor allem die Ermittlungsarbeit, die Harris in den Fokus rückt. Respektive die Ermittlungsarbeit einer jungen Dame (Clarice Starling). Frisch von der Akademie gekommen, ein wenig naiv, noch unsicher in ihrem Metier, soll sie gleich in ihrem ersten größeren Job keinen Geringeren als Dr. Hannibal Lecter in seinem Hochsicherheitstrakt aufsuchen und ihn nach Informationen über "Buffalo Bill" (Gumb) befragen.
Und genau diese messerscharfen Dialoge sind es, die einen besonderen Reiz auf den Leser des Buches ausüben. "Das Schweigen der Lämmer" ist, gerade zu Anfang, ein wenig spannungsarm, mit dem ersten Aufeinandertreffen der scheinbar völlig unterschiedlichen Persönlichkeiten, dem "Bauerntrampel mit billigen Schuhen" und dem scheinbar hochintelligenten, extrem scharfsinnigen Doktor, nimmt das Buch dann aber umso mehr an Fahrt auf. Harris schafft es gar, diesen Hannibal Lecter, der im Zentrum des Geschehens zu liegen scheint, nicht als eindimensionales Monster darzustellen, sondern als hyperintellektuellen Geist mit dem Sinn für das Schöne und der Verachtung für das Dilettantische. Ein Mann mit Klasse, ein Psychologe mit der Gabe der blitzschnellen Analyse, ein kannibalischer Massenmörder mit Geist und Verstand. Selten war solch' ein Killer faszinierender, vielseitiger, meisterhaft skizzierter.
Bereits anhand dieser Figur schöpft "Das Schweigen der Lämmer" Kraft. Kraft aus seinen Charakteren, deren starke Zeichnung Thomas Harris (wieder einmal) fabelhaft gelungen ist. Das spiegelt sich auch in Clarice Starling wieder, insbesondere was ihren Kampf mit ihren Erinnerungen und mit sich selbst anbelangt. Mit viel Feingefühl und Sentimentalität schildert der Autor Starlings ehrgeizige, erbarmungslose Jagd nach Jame Gumb, die sich bald schon in echte Obsessionen hineinsteigert, und ihr einziger Freund bei der Polizeibehörde unter all diesen beinah frauenfeindlichen Cops ihr Vorgesetzter ist. Ein nichtsdestotrotz stereotyper, langweiliger Charakter, bei dem jedoch Harris mit einer kleineren erzählerischen Seitenlinie über seine totkranke Frau für zusätzliche Spannung sorgt.
Seinen fesselnden Plot breitet der Autor wie schon in "Roter Drache" stilistisch stringent aus, sein Schreibstil ist einmal mehr mit trockener Sachlichkeit versehen, die Handlungselemente verlaufen erstaunlich geradlinig, die subtil, aber eindringlich dargestellte Brutalität per se manifestiert sich (wieder) im Kopf des Lesers. Auffallend ist wohl auch die Tatsache, dass der Leser die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, aus dem Blickwinkel Lecters, aus dem Starlings, ihres Vorgesetzten und schließlich aus der Sicht Buffalo Bills – die Vorbereitung seiner Verbrechen.
Spannung entwickelt sich dabei vor allem aus einer später ausbuchstabierten und durchaus dynamischen Parallelmontage heraus, die immer wieder zwischen Ermittlung und dem hoffnungslosen Kampf Gumbs neuestem Opfer, der Tochter einer Senatorin, im Keller von Gumbs Haus hin und her pendelt. Was die Twists angeht, ist auch "Das Schweigen der Lämmer" narrativ mit relativ vielen Überraschungen, mit vielen kleinen Details, gespickt, die zur Auflösung des Falles groß beitragen könnten und dem Leser so Unterhaltung offeriert, die nur wenige bis gar keine künstlich aufgeblähten Streckungen beherbergt.
Summa summarum geht Harris' Melange aus Krimi- und Horrorelementen auf. Mit Hilfe eines schlüssigen, konstant anhaltenden Spannungsbogens mit den Abgründen menschlicher Psyche unterfüttert, und der Erschaffung furchterregender, aber auch faszinierender Bestien, die zugleich als Identifikationsfiguren fungieren, ist "Das Schweigen der Lämmer" zwar nicht ganz so überzeugend wie sein Vorgänger "Roter Drache", ein packender, morbider Klassiker des modernen literarischen Psycho-Thrillers aber allemal.