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Freitag, 9. Mai 2014

Die Kurzfilme Stanley Kubricks: "The Seafarers" [USA 1953]


[...] Wo "Flying Padre" mit narrativen Texturen in einem Zustand ästhetischer Reife bereits Kubricks Spielfilme im Voraus planten, besinnt sich "The Seafarers", letzter Dokumentationsbeitrag, abermals vermehrt auf den Fragmentarismus penibler Situationsabläufe und das Stichprobenartige aus "Day of the Fight". Kubrick musste schlicht ein vorgegebenes Drehbuch in Bildern umwandeln. Engagiert hatte ihn die New Yorker Seefahrtsgewerkschaft (kurz: SUI) für einen halbstündigen Clip in deren Hauptzentrale, der verheißungsvoll Ehre, Ruhm und Vaterland glorifiziert, während Seemänner zur ultimativen Freiheit auf dem Meer schippern. Ein pathosgeschwängertes Loblied auf amerikanischen Heldeneifer ist "The Seafarers", aber auch detailbesessen (zu detailbesessen: das Essen in der Kantine) und voller Bewegung. Das Kompositionstalent Kubricks, das ebenso Symmetrische wie Ausschmückende seines Stilllebens, bildet die Quintessenz dieses propagandistischen Marketinggags [...] 


Mittwoch, 7. Mai 2014

Die Kurzfilme Stanley Kubricks: "Flying Padre" [USA 1951]


[...] "Flying Padre" hingegen ist die vielleicht gewöhnungsbedürftigste Arbeit, überkandidelt heiter, thematisch isoliert und einem naiven Naturalismus für eine Touristenbroschüre verpflichtet. Zwei Tage lang begleitete Kubrick einen Pfarrer namens Fred Stadtmueller. Ein ulkiger Geselle, der in seinem Flugzeug tausende Meilen zurücklegt, um in mehreren Kirchen verfügbar zu sein. Was Kubrick daran interessiert haben mag? "Flying Padre" bedeutet vordergründig zwei, drei Schritte nach vorn im experimentellen Findungsstadium des Regisseurs, parallel zum Fotografischen, Einrahmenden und bildnerisch Verpackenden eine rudimentäre, drollige, humanistische Geschichte zu erzählen (mit einem Baby in Not). Eine Gemeinsamkeit teilt "Flying Padre" hierbei mit "Day of the Fight": Beide können als Porträt gesehen werden, einer außergewöhnlichen Person, die sonst im kollektiven Bewusstsein in einer Dunkelkammer haust, einen Platz anzubieten, der ihr respektvoll huldigt. Auch visuell hat Kubrick in diesem zweiten Kurzfilm entscheidend dazugelernt, denn von lakonisch eingefassten, grimmigen Gesichtern, über dekorative Kameraschwenks bis zu voluminösen Flugsequenzen öffnete sich Kubrick dem Raum, den Verbindungsstücken seiner Filmgrammatik. [...] 


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Montag, 5. Mai 2014

Die Kurzfilme Stanley Kubricks: "Day of the Fight" [USA 1951]


[...] Für "Day of the Fight" beobachtete Kubrick den Boxer Walter Cartier, wie er sich auf einen wichtigen Kampf vorbereitet und, einem Überraschungsschlag geschuldet, schließlich als Sieger die Arena verlässt. "Day of the Fight" suhlt sich im Alltagsrauen, weil dieser Kurzfilm elliptisch, suggestiv und in kurz angebundenen Beschreibungen eine Reportage über einen "ganz normalen Arbeitstag" auf bescheidenem Niveau schildert. Als Bausatz für Kubricks zweiten abendfüllenden Film "Der Tiger von New York" (selbes Sujet, professionellere Technik) ist er stattliches, grob gerastertes und ungemein schnelllebig gefilmtes Handwerk, das sich in der Planung für Größeres, Weitblickenderes und Umfassenderes befindet. Cartier als Boxer, dessen gewonnene und verlorene Kämpfe lediglich die nächsten ankündigen, greift Kubricks frühen Rohentwurf von einer in der Regelmäßigkeit eines Rades funktionierenden Zeitschleife auf, die ausschließlich partiell Erlösung gestattet. Zwei Einzelszenen verdienen besondere Aufmerksamkeit: Wenn Cartier mit seinem Hund spielt, bezeugt Kubrick, dass auch er mit Wärme eine allzu herzensechte Emotion filmen kann. Und in Richtung "Uhrwerk Orange" schielt demgegenüber ein Augentest kurz vor der Prüfung. Wie prophetisch. [...] 


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Mittwoch, 3. Juli 2013

Spielberg-Retro #12: "A.I. - Künstliche Intelligenz" / "Artificial Intelligence: AI" [USA, GB 2001]


Es ist und bleibt ein hochinteressantes Gedankenexperiment, einen der größten Formalisten des Kinos mit einem der größten Herzschmerz-Romantiker zu kreuzen, Stanley Kubrick mit Steven Spielberg, Kälte mit Wärme. Spielberg, der seit "Unheimliche Begegnung der dritten Art" wieder ein Drehbuch schrieb, werkelte an einem Vermächtnis Kubricks, das sich künstlerisch ambitioniert auf zwei Wegstrecken bewegt. Als Resultat einem kontrastreichen, kühnen Experiment nicht unähnlich, das vieles ausprobiert und kombiniert, ohne eine genaue Form festzulegen, thematisiert der Film im Gewand einer Hommage, mehr noch: einer Herzensangelegenheit, folgerichtig dies und das allenfalls nachlässig und nie genauer dies oder das, was anspruchsvoll scheint.

"A.I. – Künstliche Intelligenz" fliegt im Eiltempo über die inhaltlich fundamentalen Science-Fiction-Fragestellungen – von dem Zusammenleben organischer und mechanischer Lebewesen in einer Dystopie, von der Zweckmäßigkeit einer Liebe, die nicht erwidert werden kann, über die zwischenmenschliche Relevanz künstlicher Intelligenzen bis zum großen Sein und, überhaupt, dem Sinn der Existenz. Angereichert mit literarischen Querverweisen "Pinocchios" und deshalb entschieden mehr der Spielberg-Affinität sagenumwobener, staunenswerter, naiver Märchenfacetten zugeordnet, kokettiert der Film vielmehr mit einer morbiden, futuristischen Gutenachtgeschichte, die besonders im spektakulären Aufgehen eines "Mondes" im Wald (während ein süßer, brummiger Teddy seinem Ziel entgegen holpert) Bilder kreiert, die an den deutschen expressionistischen Stummfilm der 20er Jahre erinnert. 

Was dabei alles Kubrick zugedacht sein soll, die ausgiebig zelebrierten Plansequenzen, die narrative Aktgliederung, das, speziell im ersten Abschnitt des Films, konzentrierte malerische Erzählen in menschlichen Regungen, Blicken, Bewegungen, die anfänglich reduzierte Farbpalette, die ein Gefühl von aseptischer, laborkühler Reinheit aufkommen lässt, die dazu feinabgestimmte, spiegelblanke Lichtsetzung, die vergleichsweise stillen Kamerabilder Janusz Kaminskis sowie die im Suchen begriffene, artifizielle Musik John Williams, die erst nach und nach den opernhaften Kubrick-Strauss-Triumph beimischt: All das wird zunehmend torpediert von der Macht des Spielberg-Pathos, ersatzweise lieber in überbetonten, erwärmten Landschaftsfarben, melodramatische, hysterische Emotionen zu durchleben. 

In seinen schönsten Momenten, zum Beispiel im finalen extraterrestrischen Teil oder gar vor Beginn der familiären Entfremdung, ist das aber ein in seiner romantischen Güte und mütterlichen Herzlichkeit schier erstaunlich inniger Liebesfilm, der zahlreiche obskure, animatronische Stan-Winston-Masken, den industriellen Cyber-Prunk eines sexualisierten Techno-Großstadttreibens (der Tunnel als Phallus) und die Überreste Manhattans, einer versunkenen Zivilisation, die gefangen ist in beständiger Melancholie über das, was war, überkandidelt ausstellt. Das Konzept dieser Welt ist anregend, und zu gern hätte man hiervon mehr erfahren wollen, über die einsame Kundschaft des Gigolos Joe (Jude Law), über den Gigolo selbst, über die Stadt, über die Geschehnisse davor. Wenn allerdings zum Abschluss die Träne der Menschlichkeit fließ, ein Ersatz für die Flamme aus "Schindlers Liste", dann ist sie wieder da, die Spielberg-Magie. Plötzlich und unvermittelt. Genau wie dieses an sich faszinierende, sympathisch hin- und hergerissene Experiment. 

7 | 10

Dienstag, 27. November 2012

"Shining" / "The Shining" [GB 1980]

Dadurch, dass ich die literarische Vorlage in- und auswendig kenne und die Unterschiede beider Medien beträchtlich, sprich: hochinteressant, sind, konnte ich es mir nicht nehmen lassen (zumindest in den ersten beiden Absätzen vermehrt), auf diese einzugehen. Eventuelle Spoiler. Keine Filmkritik oder Analyse. Eine willkürliche, keineswegs vollständige und bruchstückhafte Ansammlung von Notizen und Beobachtungen, die sich auf die verkürzte, internationale Fassung beziehen. 


Stephen Kings gleichnamiger Gruselroman erweist sich als Vorzeigeexemplar dessen, den Horror des Augenblicks aus der Trivialität des Alltags zu erschließen. "Shining" ist vor allem übernatürliches, ganz und gar ausschweifendes Erzählhandwerk, rational nachvollziehbar(er), da hunderte Seiten zur Charakterisierung der Figuren zu Beginn als melodramatisches Erklärmuster herhalten müssen, um die mysteriösen Geschehnisse zwischen Kontrolle und Wahnsinn, Mystik und Dämonie im Hotel zu erklären. Nicht weniger als die soziopsychologische Dekonstruktion einer normalen amerikanischen Durchschnittsfamilie, die am Abgrund entlangschrammt und doch hineingezogen wird. Ein für den Winterdienst vorgesehener Familienvater in der Gestalt eines neuen Hausmeisters beschwört aufgrund von unzähligen Neurosen aus seiner Vergangenheit letztendlich nur Chaos herauf. Selbstverwirklichung und Selbstzerstörung verbrüdern sich, und aus dieser verwachsenden Mutation bleibt nur der Tod.

Georg Seeßlen hat klugerweise davon geschrieben, dass Stanley Kubricks reichhaltige, experimentierfreudige Genreauswahl mit seiner lebenslangen Obsession für das Schachspiel unmittelbar zusammenhängen könnte. Demnach verstehe es Kubrick, jedem Genre zu einem Schachzug zu bewegen, der vorher nie ausgespielt wurde. Folgerichtig hält sich Kubricks "Shining"-Version nicht sklavisch an die Vorlage, sondern befreit sich von dieser exorbitant, indem all jene Motive eliminiert werden, die Kubricks Bildsprache widersprechen.

Um exemplarisch die Illusion der labyrinthischen Struktur auszubauen, mussten die Heckentiere aus dem Roman gegen einen Irrgarten vor dem Hotel ausgetauscht werden, für die dramaturgischen Zeitschleifen wiederum figurale Beweggründe, die zum Leben erwachenden Gegenstände fehlen vollständig. Übrig bleibt ein Horrorfilm, der nicht wirklich einer ist, eine Romanverfilmung, die nicht wirklich eine ist, ein Genrefilm, der sich an keine Genreregel wirklich hält. Ist es etwa nur noch eine psychoanalytische Emanzipationsparabel von Frau und Kind? Naturalistischer Horror? Ein intellektueller Genrestreifzug? Sicher ist das nicht, aber sicher ist: ein Kubrick-Film. Durch und durch.


"Shining" dürfte neben Kubricks "Lolita" trotz aller nachfolgenden medialen Verwurstung auch als grobe "Twin Peaks"-Blaupause für David Lynch hergehalten haben. Die intertextuellen Verweise schlagen sich in der Tatsache nieder, dass die Randfigur Jerry Horne in der Serie einen Satz direkt aus "Shining" zitiert, zur These, dass Lynch das metaphorische Rot aus Kubricks Film für seine Interieurs, speziell für den Red Room, weiterentwickelt hat, wo der rückwärts sprechende Zwerg, ganz nebenbei, zugleich eine Weiterentwicklung des rückwärts sprechenden Dannys (Danny Lloyd) verkörpern könnte ("REDRUM"), dessen halbschlafähnliche Visionen in Trance schaurig-schön mit dem Grad von Jacks geistiger Verwahrlosung korrespondieren.

Apropos Jack Torrance: ekstatisch, psychotisch und überlebensgroß von Jack Nicholson irrsinnig gespielt ist er, einer, der die Gesetze der Ethik aushebelt und sich auf die roheste, ungeschliffenste Form des Menschsein besinnt, auf das Jagen, auf das Animalische. Der Geist des Hotels manifestiert sich in der fleischlichen Hülle von Jack Torrance, der gezwungen wird zu töten als kaum definierbare Gestalt, zurückgeworfen in die Steinzeit, der sich vielmehr Mächten gegenübersteht, die er nicht zu kontrollieren imstande ist. Leland Palmer aus "Twin Peaks" ereilte ein ähnliches Schicksal, auch Dale Cooper. Auch eine Parallele.

Ins kollektive Gedächtnis der Horrorfilm-Ära haben sich hingegen ikonische Augenblicke wie diese auf immerwährende Zeit eingebrannt: Nicholsons Haifischgrinsen ("Hiiiiiieeeeer ist Jacky!"), während er mit der Axt durchs Badezimmer stürmt, der blutgeflutete Fahrstuhl, die tote Frau aus der Badewanne (wissenswert: das Erotische mutiert hierbei zum Tödlichen, das Körperbetonte zur eventuellen Körperverletzung; Sex und Gewalt, es meldet sich im künstlerischen Schaffensprozess Kubricks zurück). Erschrecken vermag dies wenig, es sind weder besonders hektisch geschnittene noch sensationserhaschende Momente, es sind Momente, die von einer elegischen Ruhe geprägt sind, gleichbedeutend mit dem langsam Spuren hinterlassenden Wahnsinn.


Selbst dort, wo es gruselig sein sollte, transzendiert Kubrick den schaurigen Moment mit Hilfe betörender Ästhetik. Der Film erschreckt ausschließlich und überhaupt sehr, sehr effektiv über die mit zentralperspektivischem Fluchtpunkt hantierende Montage, über die  rhythmischen Steadycam-Fahraufahmen (hinter jeder Abzweigung könnte etwas lauern), die sich ständig im Fluss der Bewegung befinden, den filmischen Raum verflüssigen und sich gegenseitig überlagern, entkoppeln, der strengen Symmetrie des Bildaufbaus anpassen. Außerdem über die Subjektivität der Kamera, die in den Körper der agierenden Charaktere schlüpft. Wir sehen dann, was sie sehen, wir werden zu ihnen.

Unter Berücksichtigung traditioneller Genredogmen gilt es damit, diese zu brechen. Bei Kubrick lauert die Gefahr nicht etwa in der Dunkelheit, um sich blindlings auf ihr Opfer zu stürzen, nein, bei Kubrick lauert die Gefahr im permanent brennenden Licht, in der blendend weiß erleuchteten Räumlichkeit eines Hotels, das ohnehin keine dunklen Ecken zu haben scheint (nicht mal der Keller). Das Licht als Gefahrenmilderung mutiert plötzlich zur Gefahrenforcierung (die wunderschöne Toilettenkulisse!) und entlarvt damit genau genommen die Antithese zur Jahrzehnte überlieferten Mär von der Dunkelheit, die unwiederruflich verschluckt. Kubrick bricht ebenso personell mit den Gesetzen: Dick Hallorann (Scatman Crothers), seines Zeichens der helfende Außenstehende und unfreiwillige Heldentypus, wird in der erstbesten Möglichkeit beseitigt.

Der maßlos scheppernd-abgehackte Soundtrack trägt das Seinige dazu bei, damit sich Zuschauer in diesem Werk erschrecken. Er ist integraler Bestandteil und verengt die Geräusche im Film als suggestive Schreckgeräusche ungemein plakativer, grauenerregender. So imitiert die Musik ein Motorengeräusch des stotternden Motors der "Schneekatze" oder eine abgerissene Schreibmaschinenseite; die (teils neblige) Autofahrt zu Beginn verkörpert aufgrund ihrer geisterhaften Klangteppiche im Hintergrund eine tatsächliche Geisterfahrt. Ungeachtet dessen erschreckt Kubrick augenzwinkernd mit Zeitangaben, wenn die Musik lautstark aufdreht, sobald die Kapiteleinteilungen im Bild erscheinen. Schlitzohr!


Gehen wir etwas unter den Rand der Oberfläche, denn das wirklich Hochinteressante umschließt jene tiefer gelegten Ebenen, die dem Film einen in die Breite gezogenen Fundus thematisch vielversprechender Querverweise fernab des Horrormotivs beschert. Auf den ersten Blick verwurzelt Kubrick "Shining" zwischen einigen wesentlichen Komponenten, von denen Verästelungen abzweigen. Da wäre die Natur. Sie ist majestätisch, überlegen, unkontrolliert, gegenüber dem Menschen hauptsächlich.

Aus jenem Grund, dass Kubrick Naturaufnahmen und damit gepaarte Wetterumschwünge omnipräsent illustriert, verleiht er dem Grauen einen naturalistischen Anstrich. Das Scheitern aller Kommunikation zur Außenwelt wird später maßgeblich vom Wetter abhängig sein. Schnee zerstört die Telefon- und Funkleitungen und verhindert generell ein Entkommen aus dem Hotel. Die Natur ist der zweite Feind, mit dem sich Wendy (Shelley Duvall) und Danny konfrontiert sehen, eine ausweglose Konfrontation, weil der Gegner übermächtig scheint.

Schutz bietet, zumindest bis zu einem gewissen Grad, die Metapher des Labyrinthes. Jack wird in der (labyrinthischen) Küche eingeschlossen, Danny entkommt im (labyrinthischen) Irrgarten und sucht Schutz auf (labyrinthischen) Teppichen, wo er gefährliche Eindringliche abzuschirmen versucht (zum Beispiel in der Szene, als ihm beim Spielen ein Tennisball entgegenrollt). Das Hotel ist labyrinthisch angeordnet – vorwiegend rechtwinklige Abzweigungen während der Plansequenzen zeigen dies. Das Labyrinth ist demzufolge als Schlüsselmotiv zu werten. Einerseits steht es für die Desorientierung, andererseits für die Orientierung, aber auch angesichts seiner erdrückenden Form und begrenzten Größe wegen für die Endlichkeit in der Unendlichkeit.


Den sozialkritischen Gestus des King-Romans, speziell die kapitalismuskritischen Spitzen, spart Kubrick abermals aus, sodass lediglich eine Hülle übrig bleibt. Im Buch konnten wir anhand von zig Seiten die von Gier überschattete Geschichte des Hotels nachvollziehen, im Film hingegen raubt Kubrick der Vorlage ihren Subtext, der vor allem nicht im Dialog ausbuchstabiert wird, sondern subtil mit Porträts, Fotografien, die an den Wänden hängen. Kubrick schwafelt nicht, er erzählt (wieder) ausschließlich über Bilder. Alles, was wir erfahren, ist, dass das Hotel zur Besiedelung auf einem ehemaligen indianischen Begräbnisplatz errichtet wurde.

Das Ablegen jedweder zivilisatorischen Werte (auch der erwähnten "Donner-Gruppe", die zu Kannibalen wurden), um Ureinwohner auszurotten und Landmasse gewaltsam an sich zu reißen, zeigt sich in Jack Torrance, der ebenfalls zivilisatorische Werte abtötet, um seine eigene Familie auszurotten. Die Instrumentalisierung seiner selbst durch des Hotels teuflischer Vertreter (Philip Stone), das Rache für die Indianer, seine wahren Bewohner, geschworen hat? Möglich. Das Indianermotiv ist allgegenwärtig, im Vorratsraum, in der Kleidung Wendys. Schlussendlich überlistet Danny seinen Vater durch einen alten Indianertrick. Indianer, Spiegel, Dopplungen – alles überlappt sich in einer unwahrscheinlich detailreichen inszenatorischen Akribie.

Alles überlappt sich mit zunehmender Dauer, auch narrativ, auch ein Schlüsselmotiv für das Verständnis des Zuschauers. Alles verschachtelt sich ineinander, Raum- und Zeitebenen ergänzen einander, summieren sich sogar einander (zwei tote Frauen im Badezimmer: eine Vision in der Vision der scheinbaren Realität?), das Raum-Zeit-Kontinuum wird dort durchbrochen, wo Realität, Fiktion und Traum, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verschmelzen. Es ist ein ungewöhnlich strukturierter Genrefilm, er ähnelt mehr einem essayistischen Bilderkatalog fragmentarischer Fetzen von Horrorassoziationen, als stringentem Erzählkino.


Das Weglassen der wichtigsten Handlungsanker aus dem Roman ermöglicht es Kubrick, eine zerstückelte Handlung, die einer Zeitspirale gleicht, komplett im Ungefähren divergierender Wahrnehmungsebenen zu verankern, deren sprunghafte Dramaturgie und die harten, bewusst unzusammenhängenden Schnitte (vom jagenden Jack im Finale wird direkt zum erfrorenen Jack geschnitten) ein Höchstmaß an Irritation verursachen.

Irritiert über die Zeit, über den Ort, irritiert über die Quellen des Wahnsinns (wodurch genau wird Jack wahnsinnig?) verschiedener Realitäten, die scheinbar nebeneinander koexistieren, aber ohne kausalen Zusammenhang in symbolischer Verbindung stehen (die Schlusseinstellung?). Wer sieht was? Danny hat Visionen, die ihn davon abhalten sollen, sich ins Hotel zu begeben. Jack hat Visionen, obwohl Jack von seiner Vision aus dem Vorratsraum gerettet wird. Doch keine Vision? Und, kurioserweise, fängt Wendy auch an, Visionen und Wahnvorstellungen zu entwickeln.  Warum? Oder doch nicht?

Vielleicht so: "Shining" erweist sich als Vorzeigeexemplar dessen, ein mehrschichtiger (Kunst-)Horror über die Entgleitung der Außenwelt und die Verzerrung der Wahrnehmung zu sein, bedingt durch die psychisch belastende Situation vom Eingeschlossensein ohne Ausweg. Ein hochkonzentrierter, ein technizistischer Gegenentwurf zu Stephen Kings ausladender und emotionaler Angstmeditation.

Samstag, 17. November 2012

"2001: Odyssee im Weltraum" / "2001: A Space Odyssey" [GB, USA, F 1968]


Wahnsinnig. Besessen. Kosmisch. Egozentrisch. Formvollendet. Die Steigerung all dessen, was sich früher, heute und morgen als "Kino" schimpft. Seufzer der Überwältigung aus gleitenden Bewegungen durch Raum und Zeit, die Transformation des menschlichen Individuums zu etwas Neuem, Höherem, merklich Metaphysischem. Wenn Film zur Oper, leichte Unterhaltung zur anregenden Erfahrung wird. Ein singulärer Regisseur findet das zeitüberdauernd Genuine im Science-Fiction-Film, der auf einer hochgeistigen Ebene fundamentale Zivilisationsfragen nach dem Sinn des Lebens in zwei essayistischen Bildsinfonien und einer mehr dem Erzählkino verhafteten Konfrontation von Mensch gegen Maschine und HAL gegen Bowman stellt.  Von scheiternder Menschlichkeit, göttlicher Intervention, psychedelischer Vision, gewaltsamer Menschheitsgeburt, arroganter Überlegenheit und evolutionären Bewusstseinssprüngen schwarzer Monolithen, vom Knochen zum Raumschiff zu Gott. Vom Affen zum Astronauten zum Baby. Alterung, Tod, Wiedergeburt. Ligeti. Strauss. Strauß. Berührend. Verletzlich. Stimulierend. Manchmal auch ein bisschen humorvoll. Dialoge sind Bilder, sind Text, Bilder erzählen Geschichten. Geschichten über Mechanik und dem Sein im Weltall. Eine der allerschönsten Seherfahrungen. Pure Ekstase. Jede Szene unzerstörbar, jede Sekunde unersetzbar. Und Kubrick unbezwingbar.  

10 | 10

weiterführende Links:

Dienstag, 22. Mai 2012

"Lolita" [USA, GB 1962]


Vorhang auf. Wahrlich bezaubernd und zärtlich, lieblich, lyrisch, leidenschaftlich, launisch, locker. Alle Beteiligten instrumentalisieren Liebe, betrügen und betrügen sich, während sie ein Strudel der Egozentrik in den Abgrund reißt, Neigung zu Obsession zu Katastrophe wird. Faschingsparade und Theaterstück, Satire und Rollenspiel, innerer Gefängnisfilm und äußerliches Sittenbild, Kubrick auf Meisterschaft, 37 Jahre vor "Eyes Wide Shut". David Lynch bezeichnete jene sinnlich vergiftete Frucht des Begehrens aus dem Garten der Begierde mit dem sinnestaumelnden Namen "Lolita" mehrmals als seinen persönlichen Lieblingsfilm. In der Tat: Im Verhältnis von eigenbrötlerischer Vorstadt-Groteske ("Twin Peaks"), surrealem Fassadeneinsturz ("Mulholland Drive") und tief bewegendem Noir ("Blue Velvet") nimmt Kubrick Motivkonstanten des verschwurbelten Alptraumkonstrukteurs vorweg. Freilich ein Film, über den sich so manche detaillierte Psychoanalyse, auch unter dem Schwerpunkt der tabuisierten Pädophilie unter Betrachtung der damaligen gesellschaftlichen Konventionen, schreiben ließe (siehe Seeßlen). Der Leitsatz einer Verfilmung eines unverfilmbaren Romans war indes der: "Kein Sex!" Folglich bleibt es in den anzüglichsten Szenen beim geflüsterten Wort, bei verschlüsselten Berührungen, bei zweideutigen Dialogen des Gesagten, aber nicht Gemeinten, bei abgetrennten Montagen, die ganze Zeit über. Die drei Buchstaben hängen schwermütig im Raum, an den Lippen, im Ohr, am Zehennagellack, allein, sobald sie greifbar scheinen, lösen sie sich in stumme Vokale auf und schweben davon. Skandalös! Trotzdem. Und über allem der dunkle Schleier der Selbstzerstörung in den harmonischsten Augenblicken, weil mit dem unheilbringenden Ende begonnen wird. Kubrick transformierte Nabokov in ein gewagtes, da freizügiges Experiment voller Doppelgänger und Täuschungen mit sterilen wie skurrilen Figuren, entfesselten Dialogen und absurdem Slapstick. Gleichfalls ein Leitsatz: Wollen, nicht bekommen dürfen. Mason (der Papa), Lyon (die Freche), Winters (die Waffenbestückte) und Sellers (das Chamäleon) spielen wie im Rausch den von Tragik bevölkerten Weg zum metaphorischen Einschussloch des verdorbenen Früchtchens. Vorhang zu. 

8 | 10

Donnerstag, 17. Mai 2012

"Full Metal Jacket" [GB, USA 1987]


Abscheulich ist die erste Hälfte auf Parris Island, langweilig die zweite in Vietnam: "Full Metal Jacket" ist nicht weniger als eine tolldreiste Zuschauer- wie Soldatenkonditionierung. Genauso wie der Soldat sein gesellschaftliches Rundherum emotional reflektiert und bisweilen sein ungeschminktes Seelenleben einzusperren versucht, bewertet der Zuschauer gemäß der Situation die Teilabschnitte des Films, infolgedessen er mit dem Soldat Seite an Seite, Schulter an Schulter durch den Dreck robbt. Vielleicht liegt darin das Geheimnis eines Antikriegsfilms, der gängigen Antikriegsfilmen den Krieg erklärt. 30 Jahre sind vergangen seit "Wege zum Ruhm", 23 seit "Dr. Seltsam, oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben", und Kubricks Einstellung zum Krieg, der sich erst durch die im Hintergrund umhergeisternden Mächtigen außer Kontrolle zur unbezähmbaren Beste bläht, hat sich nicht wesentlich verändert, eher radikalisiert, zugespitzt, ganz entscheidend. In einer Welt voller Scheiße findet man nur Erlösung mit der einzig errettenden Konstante, dem suizidalen Kopfschuss. Das mitleidsvolle Ermorden einer feindlichen, betenden Scharfschützin am Boden malt den Exzess des Krieges in allen dunklen Farben aus. Und das Sterben des besten Freundes im Matsch vor den schlachthofähnlichen Überresten eines brennenden Trümmerhaufens namens Kultur den der monströsen Nachwirkungen bis in die entlegensten Synapsen des Geistes. "Full Metal Jacket" behandelt über die gesamte Spielfilmlaufzeit hinweg, besonders aber zu Beginn, das Abtöten des kümmerlichen Körpers mit sexualisierter Erniedrigung, die erzwungene und doch gewollte Verwandlung in eine perfekte Maschine, was an und für sich bereits mit dem Haareschneiden beginnt. Vom Organischen zum Technisierten, von der "amphibischen Urscheiße" zum "Mann" in verschiedenen Stadien, bis der Wille gebrochen, der Appetit auf Leichen und das Verlangen nach Action alteingesessen ist. 

Der Soldat mutiert fernab aller ideologischen Motive (groteskerweise will er lediglich töten) zur Killermaschine, außerstande dem Zweifel nachzugeben. Die von Menschenhand gelenkte Maschine stellt sich wiederum über den Soldaten, über seine Triebe, über den jämmerlichen Rest Menschlichkeit. Um seine eigene Kontrolle wiederzuerlangen, muss der Gepeinigte über sich hinauswachsen. Kubrick lässt die folgenschwere Konfrontation im Toilettenraum kulminieren, in dem die Maschine und deren Schöpfer in Unterhosen aufeinanderprallen und sich gegenseitig zerstören. "2001" im Kriegslabor, nur sarkastischer. Wenn es danach Richtung Vietnam geht, ist die Erwartung groß, aber das Resultat dürftig. Für den Zuschauer, für den Soldaten. Kubrick rahmt eine poppige Version mit selbstreflexiver Medienkritik, lässigen Musikstücken und bissigen Gegensätzen der "Dualität des Menschen". Das Kriegsgeschehen selbst kommt währenddessen nie aus dem Knick, man will rein in die Scheiße, aber schwimmt doch stets neben ihr, auch wenn man nicht weiß, aus was diese Schieße besteht und warum sie abgesondert wurde. Der absurden Philosophie des Militärapparates begegnet Kubrick zunächst mit dem gleichen absurden Galgenhumor, um sie der Lächerlichkeit preis zu geben, ehe die bitterböse Schlusssequenz den Kreislauf von Parris Island schließt. Eine neue Kampfmaschine wird gezüchtet (der introvertierte Rafterman), auch wenn die Scheiße mit zittrigen Händen am Abzug trotzdem schwerer zu ertragen ist als angenommen. Das Friedensabzeichen des Jokers (Matthew Modine) hängt schief an seiner Uniform, als ob Frieden mitten im Krieg schon immer eine schiefe Wunschvorstellung wäre. Die Scheiße beginnt von vorn. Man kann ihr zeitweilig ausweichen, in dem man sich in den Schutzpanzer zwängt, dem Schutzpanzer Zynismus: "Paint it Black".

8.5 | 10

Montag, 12. September 2011

"Barry Lyndon" [GB 1975]


"Barry Lyndon" reißt mit all' seiner überirdischen Pracht, seiner Grazie, seiner Zartheit, seiner beständigen Zukunftsangst den Boden unter den Füßen weg. Es ist der intimste, mitleidigste und liebevollste Film Stanley Kubricks, weil er in einer sozial wie zwischenmenschlich entfremdeten Figur (Ryan O'Neal) etwas ebenso fremdartig Vertrautes wie Melancholisches findet. Tief im Herzen verborgen. Ein Individuum zerbricht abermals an den moralischen Strukturen und an der Bestie Mensch, die ihn wie ein vergifteter Apfel verführt. Ästhetischer Perfektionismus, minutiöse Arrangements und eine beängstigende Akribie aus Kubricks Tyrannei zur vollkommenen Bildermalerei ebnen den von Zerwürfnissen und Sehnsüchten überschatteten Weg Barry Lyndons ins Verderben und "Barry Lyndons" zu einem Platz direkt im Louvre neben der Mona Lisa. Jedes Detail barocker Vorbilder in Öl gegossen und auf Leinwand reliefartig gespachtelt, da jedem Detail ein genauestens einstudierter Platz zugewiesen wird (hier entlang, bitte!). Jede Perücke, jeder Degen, jedes Kostüm scheint Bestandteil eines durchkomponierten Ausstattungssystems zu sein, bis zum Stillstand. Stillstand, wenn die Kamera rückwärts zoomt von der Nahaufnahme in die Totale (außergewöhnlich: John Alcott), Stillstand für jedwedes Abwürgen der Spannung in den Gewaltszenen, überhaupt Spannungslosigkeit dort, wo Spannung herausgefordert wird – quälend langsam, das Erzählen eines auktorial-ironischen Erzählers, quälend langsam aber auch das Genießen zur Händel-, Bach- und Schubertklassik hinter der Kamera.

Dieser Erzähler schildert Barry Lyndons spiralförmige Entwicklungsreise als ein Chamäleon, das sich verschiedenartigen Situationen anpassen muss, indem es seine Haut den Gegebenheiten färbt. Bursche (zukunftslos). Lümmel (impertinent). Vagabund (rebellisch). Soldat (mutig). Spion (raffiniert). Falschspieler (erfahren). Hochadeliger (materialistisch). Und wieder zurück. Zum Burschen, vereinsamt, zukunftslos. Keine Geschichte, die altbacken  nach Schema F aufbereitet wird, diametral jedoch eine umso dekadentere Bildermeditation hervorbringt; ein politisches Zeitporträt, das rabenschwarz und komisch, fiebrig und subtil gleichermaßen unter die Haut geht. Geld und Macht in einer sich zwingend selbst erhaltenden, degenerierten Gesellschaft sind dazu verdammt, der Menschlichkeit zu widersprechen und der Ritterlichkeit eine Bleikugel in die Brust zu jagen. Trotz des resignativen, spöttelnden Kubrick-Blicks auf Barry Lyndon widerspricht Kubrick seinem Gestus fortwährend, sobald er immer wieder Gesten des erwärmenden Optimismus zwischen denen der hemmungslosen Kälte einstreut: Barrys erster Kuss mit Lady Lyndon (Marisa Berenson), Lord Bullingdons (Leon Vitali) Zusammenbruch während der Genugtuung versprechenden Farce eines Duells oder das Aufeinandertreffen zweier Iren, von denen der eine den anderen beschatten sollte. Solcherlei Augenblicke, in denen die Fassade des künstlichen Antlitzes einstürzt, die Maske des ihn verschlungenen Gefüges zerfällt, die Zähmung des vorgesehenen Kostüms misslingt und der reine, unverstellte Blick unter Tränen geboren wird.

10 | 10

Mittwoch, 20. Juli 2011

"Der Tiger von New York" / "Killer's Kiss" [USA 1955]


Schauspieler mittelmäßig, Thema idiotisch. Im Rückblick auf seinen zweiten offiziellen Spielfilm – sein erster Film "Fear and Desire" war so schlecht, dass er glatt alle Kopien aufkaufte – ließ Stanley Kubrick einige Jahre später kein gutes Haar am "Tiger von New York". Es sei ein dämlicher Film, ausnahmslos dilettantisch gefilmt, trotz einiger zufriedenstellender Passagen. Das trifft es gut, ziemlich gut, obgleich Kubrick seine Filme meist ungemein kritischer einschätzte als sie schlussendlich waren. "Der Tiger von New York" taugt heute stellvertretend dazu weniger als filmmechanisch ausgewogener Noir, sondern als interessante Auseinandersetzung mit dem kinematografischen Reifeprozess des Regisseurs als solches. Der Film verkörpert eine stilistische Fingerübung, ebenso wie eine kleine Kammerspielmusik in Anbetracht dessen, welche großen Symphonieorchester später folgen sollten. Er gibt einen Vorgeschmack auf Symbole, Motive, Perspektiven, er eröffnete die Suche, der Suche nach der vollendeten Kunst mit manischer Besessenheit, der Suche nach dem perfekten Bild in einer perfekten Einstellung eines perfekten künstlerischen Erzeugnisses. Noch war diese Suche nicht abgeschlossen, Kubrick suchte nach diesem Film weiter; "Der Tiger von New York" war keinesfalls ausbalanciert im Verhältnis zwischen Technik und Geschichte, aber er wusste wesentlich mehr über seinen Schöpfer vorwegzunehmen als zukünftige Projekte nach ihm.

Kubricks ausgeprägte Affinität zu gesellschaftlichen Außenseitern lässt sich bis zum "Tiger von New York" nachvollziehen; auch später widmete er menschlich gebrochenen und sozial isolierten Figuren ihre eigenen Filme. Jahrzehnte vorher interessierte ihn bereits das Einsame der Seele, in dem er den erfolglosen Boxer Davy Gordon (Jamie Smith) ins Zentrum der Handlung einer klassischen Dreiecksbeziehung rückt, die bei Entflechtung der jeweiligen Beziehungen untereinander eigentlich überall Außenseiter offenbart. Da ist der introvertierte Boxer, alleingelassen und auswegsuchend, vielleicht mit Hilfe einer Frau. Da ist seine finanziell angeschlagene Freundin (Irene Kane), seine zukünftige neue Frau, das kleine Häufchen Elend, zwangsverliebt und auswegsuchend, vielleicht mit Hilfe eines Mannes. Da ist ihr ehemaliger Geliebter (Frank Silvera), der skrupellose Gangsterboss, der Henker, wie er genannt wird, kaltherzig, aber auch verletzlich, auswegsuchend, vielleicht mit Hilfe einer Frau, die ihm den Status von Macht verleiht. So schließt sich der Kreis. Das Ziel eines jeden Einzelnen ist gleichzeitig der Ausweg des jeweils anderen. Und am Ende schließt sich der Kreis tatsächlich: Kubrick inszeniert ein zuckersüßes Happy End, wo der Name "David" kaum zartschmelzender ausgerufen werden könnte. Des Regisseurs stets anhaftender Ruf des kühlen, an Wärme und Schicksal vorbeinszenierenden Laboranalytikers wird damit (ironisch, wohlgemerkt: das Studio wollte einen optimistischen Schluss) ins Gegenteil verkehrt. Jeder bekommt am Ende das, was er in den Augen des Publikums moralisch verdient.


Möge Kubrick in "Der Tiger von New York" gewohnt nach dem visuell-Erhabenen nachschnüffeln, erhaben ist sein Inhalt nicht. Die narrative Unbeholfenheit angesichts eines in den Kinderschuhen steckenden Ausnahmekünstlers oszilliert zwischen verquasselter Schwarzer Serie, abgestandenem Melodram, verschachtelter Rückblendenerzähle und rudimentärer Boxerstudie, je länger Kubrick erzählt; so lange, dass selbst eine knappe Gesamtlaufzeit von etwas mehr als einer Stunde nichtsdestoweniger Überlänge heraufbeschwört. Manches arbeitet Kubrick hinein, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass es weder Sinn noch Mehrwert bedeutet. Natürlich ist die Möglichkeit anhand des geringen Budgets begrenzt, spektakuläre Haken zu schlagen. In einer Szene versucht Kubrick dies sogar zu kaschieren, wenn er vor dem Hintergrund einer tänzelnden Ballerina die Leidensgeschichte dieser mit dem Voice-over ihrer Schwester Gloria (Kane) erzählt. Allerdings: Es ist nicht von Belang, nicht für die Handlung, nicht für die handelnden Personen, es gewichtet nichts Zusätzliches oder lenkt oder dirigiert, es schwebt stattdessen in der Luft und hängt da oben als ein verlorenes Puzzleteil, das auf seinen vermeintlichen Anschluss an die anderen Teile wartet. So auch die mehrmals angerissene Onkelgeschichte, zu dessen Ranch Davy eingeladen wird, um dort eine Auszeit zu nehmen – ein weiteres verlorenes Puzzleteil, ohne Anschluss, vollkommen unwichtig, Ballast, den es abzustreifen gegolten hätte.

Kubricks absonderlicher Genrehybrid spiegelt auf der erzählerischen Ebene also konsequent seine vorsichtige Suche wider, die schon bald modifiziert, geölt und schließlich vollständig zum Laufen gebracht werden sollte. Bis dahin ist es ein langer Weg. Es überrascht kaum, dass im zweiten Film seine Charaktere noch austauschbares Massenwerk ähneln, Stereotypen, nicht besonders gut gezeichnet, im Grunde ebenfalls antrieblos, ausgesaugt, schlapp, kraftlos, nichts weiter als Abziehbilder und Knieverbeugungen traditioneller Noir-Schablonen: die blonde, undurchsichtige Femme Fatale, der heldenhafte Looser, der durchgestylte Böse, dunkel angezogen, mit dunklen Absichten. Und das obligatorische Opfer zur dramaturgischen Richtungsänderung, hier: Davys Boxfreund aus der Sporthalle, Albert (Jerry Jarret). Das ist größtenteils unsicher gespielt, keine Frage (am ehesten sticht Silvera heraus), aber gerade nicht so eklatant unsicher, dass es nicht authentisch sein könnte.


Da, wo Kubrick narrativ kleckert, protzt er audiovisuell – und nimmt einige, bald zu seinem Markenzeichen avancierende Stilmittel vorweg. Sein kompositorisch-streng-spröder, allegorisch-naturalistischer, Licht und Schatten durchsetzter Handkamerastil eines Hochglanzmagazinfotografen (der er einmal war) ist geprägt von Experimenten mit der Mise-en-scène. Eine Verfolgungsjagd missbraucht er buchstäblich dazu, der Verfolgungsjagd jedwede Spannung zu rauben. Lieber rahmt er die dadurch nebenher entstehenden Panoramaaufnahmen – nicht zum allerersten Mal – zum ergrauten Gemälde einer zur Trostlosigkeit erstarrten Großstadt ein. Sobald er die Verfolgung auf ein Dach verlagert, montiert er diese als einzigen Kameraschwenk im Wechselspiel mit ästhetischen Vogelperspektiven, um das Finale metaphorisch in einer Schaufensterpuppen herstellenden Fabrik zu verschieben. Surrealismus im Angesicht des ultimativen Zweikampfes, dessen Ausgang darüber entscheiden wird, wer das Mädchen bekommt und wer nicht. Kubricks handwerkliche Ideen sind vielfältig, sein handwerkliches Geschick zum damaligen Zeitpunkt beachtlich. Mafiaabgesandter Rapallo (Silvera) schleudert aus grenzenloser Wut ein Glas auf ein an der Wand hängendes Bildnis, nur dass das Glas nicht das an der Wand hängende Bildnis trifft, es trifft direkt die Kameralinse und versetzt ihr einen Riss. Anderes Beispiel: Die ausladende Boxszene erinnert an Scorseses viel später entstandenem "Wie ein wilder Stier"; die Kamera filmt beide Kontrahenten von der Seite, von unten, hektisch, wacklig und wird zu Boden geschmettert, blickt zur Decke auf, in jenem Moment, als der tödliche Schlag den Gegner genauso zu Boden schmettert.

Kubrick wird weiter suchen, formale Perfektion und ökonomisches Erzählwerk auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Bis dahin verbleiben wir mit einem nett gemeinten "knappüberdurchschnittlich" für den Tiger. Von New York.

5,5/10