Montag, 22. Juni 2009

Literatur: Der Turm 'Der Dunkle Turm VII' (Stephen King), 2004



Story:

Die Zeit von Rolands Ka-Tet beginnt unaufhaltsam abzulaufen. Sie nähern sich dem letzten Kampf gegen ihren großen Widersacher, dem Scharlachroten König. Roland hat sein Ziel, den Dunklen Turm, immer noch fest im Auge, doch schwere Verluste sind noch durchzustehen, bis er ihn in der Mitte des mystischen Rosenfeldes erblicken wird. Aber wird er ihn auch erreichen? Ihm immer dicht auf den Fersen ist Mordred, sein Sohn - ein missgestaltetes, spinnenartiges Etwas, das eigentlich ein Mensch hätte werden können. Zusammen mit dem Scharlachroten König wirft dieser all seine Bosheit in den Ring, um Roland doch noch aufzuhalten...

Kritik:

Jede Reise findet irgendwann einmal ihr Ende. Jede Saga, jede fortführende Reihe, jeder Ausflug in ein unbekanntes Mysterium nähert sich Schritt für Schritt ihrem Höhepunkt – und endet, mal fröhlich, mal tragisch. Nach drei Jahrzehnten, sieben Büchern und etlichen Hürden, die Stephen King zu überwinden hatte, geht auch der Ausflug des Revolvermanns zu Ende. Der Dunkle Turm, das Zentrum aller Zeiten, die Mitte aller Welten, ist nach 34 Jahren endlich in Sichtweite, der Weg ist erreicht, das Ka-Tet zerbrochen, die vielleicht komplexeste Fantasy-Saga aller Zeiten findet ihren Abschluss. Spannung, Melancholie, ein philosophisches Zeitreise-Konstrukt, Action, Humor, Fantasy, popkulturelle Bezüge, Western, Horror, Science-Fiction, Poesie, unvergessene Charaktere: Hauptzutaten Kings von Robert Browning inspiriertem Werk, das als Schlüsselwerk seines Ouevres gesehen wird, beziehen sich doch fast alle seine Storys irgendwann irgendwo auf den Dunklen Turm. Der Dunkle Turm ist de facto der Mittelpunkt in des Autors Karriere. Ein Ort, an dem alle King´schen Geschichten zueinander finden, in dem alle Fantasy-Geschichten zusammenlaufen, an dem sich alle fiktiven Welten, Orte und Personen zu einem kohärenten Ganzen verschmelzen. Nun ist die Frage: Bekommt der epische Zyklus einen würdigen Abschluss? Auch wenn alle Fragen im Laufe der langen Erzählung nicht plausibel beantwortet werden, darf schon jetzt festgehalten werden, dass sich Stephen King mit dem letzten Band selbst übertroffen hat. Es ist das letzte Mal, dass man Roland, Jake, Eddie, Susannah und Oy wiedersieht – und es ist das bisher beste und ergreifenste.

"Der Turm" evoziert schon zu Anfang einen durchaus düsteren Grundtenor, der sich im Laufe der Handlung noch weiter ausbreiten wird. Mit der Ankunft Mordreds – Rolands Sohn und zugleich Sohn des Scharlachroten Königs – führt King einen Widersacher in die Story ein, dessen Schatten sich über die folgenden fast 1.000 Seiten wirft. Nur ist Mordred kein natürlicher Antagonist, er ist stattdessen die Ambivalenz in Person. Er möchte einerseits zum Ka-Tet gehören, kann andererseits dem Drang nicht widerstehen, Roland zu töten. Seine Geburt ist grotesk, seine Transformation zur Spinne ebenfalls. Dennoch ist sein Erscheinen nur ein Highlight unter vielen. Daneben kehrt King im abschließenden Band zu seinen Wurzeln zurück, was sich dahingehend äußert, dass wieder viel gereist wird. New York wird bereist, das Algul Siento wird angegriffen, das Schloss des Scharlachroten Königs wird ausgiebig unter die Lupe genommen und zum Schluss gibt es den Dunklen Turm gratis obendrauf. Dabei hat jeder Teilabschnitt seine Momente, seine magic moments. Wäre da in New York die Rettung Stephen Kings vor einem Autofahrer (Realität und Fiktion vermischen sich hier zu einem skurrilen Ganzen - in diesem dritten Teil, der sich eindeutig in Richtung metafiction bewegt; die literarische Postmonderne hat eben auch Stephen King eingeholt), welche aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird (so virtuos, dass man ausflippen möchte) und somit ein Höchstmaß an Spannung suggeriert, ist es außerdem die schweißtreibende, aber nicht minder brillant durchkomponierte Verfolgungsjagd zu Beginn des vierten Teils in völliger Dunkelheit, die einem H. P. Lovecraft zur Ehre gereicht hätte.

Neben den vielen kleinen Analogien mit der Zahl 19, den erschreckend real wirkenden Dialogen, einer Geschichte voll von kreativen Ungeheuern, Rätseln und trockenem Galgenhumor, der in diesem letzten Teil der Saga noch dazu am treffsichersten ausgeprägt ist, neben dem Schriftsteller, der – wie schon erwähnt – von seinen eigenen Figuren gerettet werden muss, neben Rolands emotionaler Reise zur Rose in New York, ist es ebenso die Schlacht gegen die Breaker im Algul Siento und das Leben im Algul Siento als solches, bei der King seine ausbordende Phantasie um ein Weiteres unter Beweis stellt. Dann hätten wir da noch als eine der besten, weil herrlich bizarren Stellen im Buch die, als Roland, Susannah und Oy in die Fänge von Joe Collins aus der Odd´ Lane geraten und sich im wahrsten Sinne des Wortes totlachen müssen. Ja, in der siebten "Der Dunkle Turm"-Erzählung mangelt es an Abwechslung schon mal gar nicht. Es gibt viele interessante Schauplätze zu bestaunen, die Spannung wird mit dem immer näher kommenden Hauptziel immer greifbarer, immer mehr entpuppt sich der Dunkle Turm als etwas, was mit Rolands Vergangenheit konform geht. Der Turm ist nicht etwa nur ein Turm, er ist etwas viel Größeres, ja, etwas unfassbar Großes, etwas Episches.

Im letzten Band der Reihe gibt es außerdem ein großes Wiedersehen mit altbekannten Charakteren (Patrick Danville aus "Schlaflos") und neuen Gesichtern (Miss Tassenbaum, Joe Collins). Aber auch ein ganz besonderer Teleporter namens Ted Brautigan betritt erstmals die Bühne des Geschehens, dessen Lebensgeschichte, mehr noch, dessen Weg zum Algul Siento abermals ein Höhepunkt der letzten Erzählung darstellt. Von Rolands eigentlichen Gefährten wird vor allem Jakes Kindheit, genauer gesagt seine Angst vor Dinosauriern näher beleuchtet, während Eddie, Susannah und Oy weitestgehend so bleiben, wie sie schon in den vorangegangenen "Der Dunkle Turm"-Büchern skizziert wurden. Ein anderer Punkt durchaus lobenswerter Natur ist die Tatsache, dass Stephen King in "Der Turm" seine satirische Distanz zu seinen Akteuren wiederfindet, insbesondere zu seinen Antagonisten. Da gibt es Randall Flagg, diesen dämonischen und mystischen Superschurken mit vielen verschiedenen Identitäten, der bereits im ersten Band "Schwarz" als Endgegner eingeführt wurde, im letzten aber wiederum ganz unspektakulär von Mordred aufgefressen wird. Der Mann in Schwarz wird von einem Kleinkind vernascht, von einem Riesenbaby in Form einer Spinne. Jener mutige Schritt verdient Respekt. Auch sonst lässt King das Böse letzten Endes als das erscheinen, was es in Wirklichkeit ist: lächerlich. Mit viel Geschick lässt er seine Bösewichter sich teilweise gegenseitig ausspielen und degradiert seine gesamten Horrorgestalten somit zu übergeschnappten Junkys. Ohne seitenlange Erklärungen, ohne ausschweifende Kämpfe findet mal der Schurke sein Ende, mal jener – und das mit einem gehörigen Schuss Lakonie. Selbst der Scharlachrote König, dieser groß angekündigte Widersacher, verkommt letztlich als nur peripher tangierter Rohrkrepierer, dessen äußerliche Erscheinung man am ehesten mit Gandalf aus "Der Herr der Ringe" assoziieren könnte.

Nun war es von Anfang an absehbar, dass Roland ganz allein den Dunklen Turm erreichen wird. Es war von Anfang an klar, dass sein restliches Ka-Tet dazu verdammt war, sich aufzulösen. Und ja, Stephen King eliminert einen Gefährten nach dem nächsten. Brutal und gnadenlos, aber nicht minder emotional. Auch hier erspart sich King kilometerlange Einleitungen, dramatisches Aufgebausche und theatralisches Tam-Tam, was dem Roman gut tut. Und trotzdem drücken ihre (kreativen) Abschiede ordentlich auf die Tränendrüse. Es ist schon erstaunlich, wie einem diese Figuren ans Herz gewachsen sind, wie man mit ihnen mitgefiebert hat, mit ihnen mitgelitten, wie sie immer lebendiger geworden sind, über drei Jahrzehnte lang. Doch die Reise muss nunmal weitergehen - und sie erfordert Opfer, keine Frage. Was unter Fans kontrovers diskutiert wird, ist dann der absichtlich unharmonische Schluss. Bis zur Koda (in der der Autor ausdrücklich davor warnt, weiterzulesen) ist das letzte Bild, das man von Roland im Kopf hat, jenes, in dem er durch die Rosenfelder marschiert und sich vor ihm das Tor des Turms öffnet. Nach spannemdem Kampf gegen den Scharlachroten König und seinen Schnaatzen rennt Roland durchs Rosenbeet und ruft die Namen all seiner Gefährten, die ihn auf seinem langen und steinigen Weg begleitet haben. Es ist der ergreifenste Moment in der gesamten Saga. Es ist ein Augenblick (als Roland zum ersten Mal den Turm erblickt), in dem King zu uns, den Lesern, spricht, denn solche Momente, solch ein Gefühl seitens des Revolvermannes, kann ein Wörterschmied, wie King sich nennt, mit simplen Wörtern und Phrasen nicht beschreiben. Nachdem dies abgehakt ist, sehen wir Eddie, Susannah, Jake und höchstwahrscheinlich auch Oy, wie sie in New York ein neues Leben beginnen werden. Ein glückliches Happy End, das irgendwie dann doch keines ist. Denn im letzten Abschnitt des Buches, als Roland die Treppen zum Dunklen Turm erklimmt und schließlich den letzten Raum betritt (dort, wo draufsteht: "ROLAND"), erst dann endet "Der Turm". Zweifellos wird das Ende nicht jedem gefallen, nicht jeden ansprechen, für viele gar eine Enttäuschung sein, aber es ist das einzig richtige Ende, das einzig plausible, es ist ein großer, ein schockierender, ein tragischer, ein grandioser Epilog. In dem Moment, als Roland die entscheidende Tür öffnet und etwas sieht, was zugleich mit Schmerz, Vergangenheit und Schicksal verbunden ist, bäumt sich der Roman zu einer Größe auf, die ihn zeitlos macht. Ka ist ein Rad; das sollte man sich verinnerlichen – und Stephen King kehrt zu seiner Ursprungsgeschichte zurück. Vielleicht findet Roland ja doch irgendwann mal seinen Frieden.

Fazit:

Wie lässt sich nun solch ein epochales Werk wie "Der Dunkle Turm" einschätzen? Sicher ist, dass Stephen King ein Werk geschaffen hat, das heute schon den Status eines Klassikers inne haben könnte. Am ehesten noch vergleichbar mit Tolkiens "Der Herr der Ringe", ist "Der Dunkle Turm" nicht nur Kings größtes Werk, es ist ebenso ein atemberaubendes literarisches Erlebnis. Nur, wo Tolkien seine im Grunde genommen ähnliche Erzählung (eine Handvoll Personen begibt sich auf eine lange Reise voller Gefahren, von deren Ausgang unser aller Schicksal abhängt) mit Versatzstücken der unterschiedlichsten Sagen und Legenden der Antike und des Mittelalters versehen hat und somit den ultimativen europäischen Fantasy-Zyklus erschuf, greift Stephen King auf die Legenden und Sagen unserer Zeit zurück und erschuf somit wiederum den ultimativen amerikanischen Fantasy-Zyklus und zitiert dabei ausgiebig die moderne Popkultur von Filmen, Büchern und Comics. Eine metaphorische, eine übergreifende, eine ungemein wuchtige Fantasy-Heptalogie, die qualitativ viele andere Abenteuer- und Fantasygeschichten überragt, die dank Stephen Kings bildgewaltiger Sprache lebendig wird, und die sich mit einem Paukenschlag verabschiedet. Sage meinen Dank, Sai King!

10/10