Freitag, 24. März 2017

"Silence" [USA, GB, TAIW 2016]


Aus einem übergeordneten Blickwinkel heraus sind alle Filme Martin Scorseses theologisch. Theologische Konstruktionen, "sakrale Räume" (Georg Seeßlen). Manche weniger, manche mehr, manche motivisch, manche thematisch. "Silence", nach Jahrzehnten der Vorbereitung vollendet, kulminiert in dem Bestreben Scorseses, die unlösbaren Abwehrreflexe zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen fortan zu studieren, und wie das Göttliche nicht menschlich, das Menschliche nicht göttlich werden kann. Der Film erzählt über die Religion, anstatt, dass er eine materialistisch-urbane Interpretation theologischer Ikonografie liefert. Trotzdem – das "unauflösbare Dreieck von Ich, Welt und Gott", das Menschen schafft, die sich wiederum in "unauflösbaren Beziehungsfallen bewegen", "nach Gott rufen", aber "auf die Straße zurückkehren, um ihr Leben als 'Schauspiel vor dem Angesicht Gottes' zu führen", prägt ganz, ganz eindeutig Scorseses demütigsten, persönlichsten Film (obgleich alle Filme Scorseses freilich eine "magische Biografie" bilden). "Silence" ist der Versuch, dem Fanatiker zu widerstehen. Ihn zu verstehen, ohne ihm zu verzeihen. Nur aus dem Schaffenswerk eines Martin Scorsese konnte sich so ein Film herausschälen. 

Andrew Garfield spielt eindrucksvoll den Jesuiten Sebastião Rodrigues, der im von Christenverfolgungen heimgesuchten, daher buddhistisch verordneten Japan des 17. Jahrhunderts seinen Mentor Cristóvão Ferreira (Liam Neeson) sucht. In einem Land, dessen existenziellster Brennstoff ein unumwunden spiritueller ist, echot die Gefangenschaft der Scorsese-Heiligen (besser: Heiligwerdenden), in kulturellen, sozialen wie ästhetischen Strukturen hineingeboren worden zu sein, die einen ideologischen Ausbruchsversuch verunmöglichen. Sebastião Rodrigues' innere Überzeugung, den Welt- und Wertevorstellungsblick zu schärfen, mutiert zusehends von frohgemuter Empathie zu einem pathologischen Zorn, zu einer "Passion des Einzelnen", die "nirgendwo zu einer gesellschaftlichen Veränderung" hindeutet. Das Christentum hat es schwer in dieser Welt, was aber lange kein Grund ist, es zum Opfer zu verklären. Denn Scorseses feinsezierende Abtragung religiöser Inbesitznahme auf der einen wie auf der anderen Seite evoziert ein Grundinteresse an beiden Positionen. "Silence" gruppiert sich mit "Die letzte Versuchung Christi" und "Kundun": vordergründig erbauliche Kanzelreden, hintergründig säkulare Analysen.

Dieser "weltliche" Ansatz, akzentuiert in metaphorischen Dialogverkettungen, entfesselt eine "kleine" Wucht. Gewalt, bei Scorsese stets etwas Manisches, stets das letztmögliche Tor vor der Verdammnis "verfehlter Erlösung", kommt in diesem Werk nicht offen zum Tragen. Scorsese zeigt die Gräueltaten der Japaner – kochend heißes Wasser, das über den Körper ätzt, Schlammgruben, Enthauptungen – aus der Distanz, trist, lethargisch. Überhaupt nicht unkontrolliert, vielmehr meditativ und resignativ. Von Altersmilde keine Spur. "Silence" ist zornig, erfinderisch, neuerfinderisch gar. Wo in vielen anderen Scorsese-Filmen eine Ballung der Ereignisse das eigentliche Ereignis zu einem Mosaiksteinchen zermalmt, haben wir es hier mit einer Stauchung der Ereignisse zu tun. Die Reise des Sebastião Rodrigues ist eine gänzlich unaufgeregte, stoisch verschränkte. Und dieser Sebastião Rodrigues übernachtet unterwegs in bescheidenen Hütten, engen Kammern. Die räumliche Topografie – in ihrer asketischen Kargheit chiffriert sie eine Reise, die Exil, die Freiheitsentzug gleichermaßen bedeutet, in der Gewalt das Wort Gottes abschneidet. Kein anderer Scorsese-Film "erspürt" Gewalt wie dieser, indem er sie nie körperlich exakt nachempfindet.   

Welche Frage leitet aber Scorsese daraus ab? Und welche Lösung? Abgesehen von derjenigen des Scheiterns? Die Frage an sich ist paradox: Warum bekämpfen sich zwei Glaubensrichtungen, wenngleich sie sich über ihre Gemeinsamkeiten verständigen können? "Silence" spielt in keinem "sakralen Raum", sondern in einem ritualisierten Entgrenzungsraum, in dem der eine Glaube allein einen Dogmatismus beschwört, eine "Entgeistigung" seiner geistig zusammengescharten Anhänger. Zwischen Dogmatismus und Existenzialismus argumentiert "Silence" zwischen dem Geleiteten und Leitenden, und der Vorwurf, Scorsese singe ein christliches Hohelied, stimmt keineswegs. Rodrigues' christliche, anfänglich sicher hehre Mission, bei der Scorsese, einverstanden, krude Jesus-Parallelvergleiche bemühen muss, wandelt sich, wie sich ebenso der Protagonist wandelt, zu einer christlichen Annexion. "Silence" ist ein Film des Leidens, des Haltens, genau dort, wo der Halt entgleitet. Aber auch des Trotzes, der, erneut beim Anfang angelangt, Aussichtslosigkeit, sich weder als immanentes noch transzendentes Wesen bekennen zu können. Oder als Wesen, das mit "offenen Augen bete[n]" sollte, zu einer Religion der Disparität, zu einem Gott als Vermittler.       

7 | 10