Sonntag, 27. Dezember 2015

"Anatomie eines Mordes" / "Anatomy of a Murder" [USA 1959]


Eine Vergewaltigung aus Rache. Ein Mord im Affekt. Eine untreue Ehefrau. Ein zwielichtiger Ehemann. Zwei eiskalte Anwälte. Fertig ist das inhaltliche Gemenge aus Otto Premingers "Anatomie eines Mordes" nach dem gleichnamigen Kriminalroman von Robert Travers. Heute ein Klassiker des Genres und zugleich einer seiner ungewöhnlichsten Vertreter, damals eher ein "unreiner" Film, der bewusst provozierte und gesellschaftliche Tabus brach. Nichtsdestotrotz: der Titel, ist der Titel nicht genial? "Anatomie eines Mordes" als ausgesprochen kluge Metapher – tatsächlich sezieren Preminger und Wendell Mayes mit beinah wissenschaftlicher und psychologischer Präzision die seelischen Abgründe ihrer Protagonisten, aber auch die Tat als solche, deren Begleitumstände sowie das US-amerikanische Justizsystem im Rahmen einer "Anatomie": gründlich, differenziert und nicht zuletzt exorbitant vielschichtig.

Nach anfänglichem "Anwalt-lernt-den-Fall-kennen" (das viel Zeit in Anspruch nimmt) evoziert das in mehrere Akte eingeteilte Herzstück des Films, der verbale Schlagabtausch zu Gericht, schnell die Erkenntnis, dass Premingers Film nicht zur Sorte konventioneller Gerichtsdramen gehört. "Anatomie eines Mordes" ist anders. Die Wahrheitsfindung speziell in diesem scheinbar trivialen und für den Angeklagten (Ben Gazzara) ausweglosen Fall ist allerhöchstens Mittel zum Zweck, wird peripher tangiert, wenn sie überhaupt existiert, wenn sie de facto nicht gar unmöglich daherkommt. Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist, dass Preminger am Ende tendenziell alles aufdeckt, von der nicht allzu rosigen Ehe von Opfer und Täter bis zu relevanten Vorurteilen, aber jene letztendliche Wahrheit, essentielle Fakten oder dergleichen bewusst umgeht.

Wir als Zuschauer müssen akzeptieren: Eine eindeutige Lösung gibt es nicht, das Puzzle bleibt lückenhaft, die Wahrheit relativ, selbst der Überraschungszeuge repräsentiert lediglich zusätzliche Spekulationen, Mutmaßungen und Beschuldigungen ohne sonderliches Gewicht. Umso anerkennenswerter, dass Preminger zwar dem Zuschauer von Anfang an suggeriert, wie der Fall wohl ausgehen könnte, er jedoch derart  meisterlich die Konventionen umschifft, dass die gelegentlichen Vorhersehbarkeiten nicht weiter auffallen.

"Anatomie eines Mordes" skizziert demnach nicht die Tat per se (da sie ohnehin eindeutig erscheint), sondern eher die Unschlüssigkeiten eines Mordprozesses mit seinen mindestens genauso widersprüchlichen Figuren, so dass man auf den großen Knall am Ende vergeblich wartet. Selbst die beiden Schlussplädoyers werden konsequent vernachlässigt. Aus dem zynischen, geschliffenen, brillanten Drehbuch kristallisieren sich eine Menge an außergewöhnlich getimten Wortgefechten und menschlichen Minidramen heraus. Und wer genau hinschaut, wird erkennen, dass Preminger ungeachtet seines ernsten Themas, abseits aller rhetorisch-eloquenten Kreuzverhöre, immer wieder erfrischend humoristische Elemente einstreut. So gilt die augenzwinkernde Debatte mit dem Richter um den für damalige Zeiten schlüpfrigen Begriff "Höchschen" (auch "Orgasmus" fällt mehrmals) während des laufenden Prozesses (!) oder um den richtigen Köder beim Angeln als Highlights, die so wohldosiert eingestreut werden, dass sie überhaupt nicht lächerlich erscheinen. Allenfalls beim Hund als Zeugen übertreibt es Preminger mit der Komik.

Darüber hinaus sorgt der Altmeister auch audiovisuell dafür, sein Werk möglichst spektakulär aus der Masse konkurrierender Genrefilme heraus zu transferieren. Die Kamera ist so unauffällig, dass sie fast nicht präsent zu sein scheint, der Soundtrack setzt sich aus pulsierenden Jazz-Klängen aus der Feder von Duke Ellington zusammen (Cameo inklusive), obligatorische Rückblenden: Fehlanzeige. "Anatomie eines Mordes" ist klar strukturiert mit dem steten Verlangen, klare Lösungen zu verweigern. Einzig die enorme Lauflänge sorgt für Leerlauf innerhalb exemplarischer Szenen mal hier und mal da, so wie beim endlosen (Schlüssel-)Verhör zwischen Laura Manion und Claude Dancer (fies-adrett: George C. Scott), weil Laura ihre Geschichte der Vergewaltigung mehr oder weniger bereits kurz nach Beginn des Films Paul Biegler (James Stewart) erzählt hat. Weniger repetitive Charakteristika der Akteure wäre definitiv mehr gewesen.

Von virtuosem Dialogkino abgesehen, bekommt der Zuschauer eben auch virtuoses Schauspielkino geboten. Der Cast ist bis in die kleinsten Nebenrollen punktgenau besetzt. Unserer Held wird von James Stewart ambivalent und ziemlich ironisch verkörpert, der auf gewohnt lässige, besonnene Art den schlauen, kalkulierenden Fuchs mimt, aber auch nicht vor unsauberen Methoden zurückschreckt und sich gelegentlich – der Ausweglosigkeit belastender Indizien wegen – in spaßige, bewusst überzeichnete Attitüden und emotionale Ausbrüche rettet, was einen fundamentalen Reiz des Films ausmacht. Großartig, wenn er als "kleiner Anwalt vom Lande" stets in die Ecke gedrängt wird. Man könnte unterm Strich gar konstatieren, dass diese Rolle zu einer seiner reifsten Darstellungen avancierte. Er, dieser gerissene Provinzanwalt mit dem Glauben, dass die Ansage vom Richter an die Geschworenen, einen Teil der Aussage nicht weiter zu beachten, auch bloß nicht aus den Köpfen rückgängig gemacht werden kann, steht zwei (sehr intelligenten) Staranwälten gegenüber.

Glänzend insbesondere das Duell zwischen Biegler und Dancer zum Beispiel in jener Szene, als Dancer Biegler dessen Sicht auf den Zeugen versperrt. Bisweilen artet diese Verhandlung in der Tat, wie im Film postuliert, in eine hysterische "Schulhofdebatte" aus. Dann wären noch die ungemein komplex porträtierte, erotisch aufgeladene und mit endlosen Gegensätzen – in Kleidung und Verhalten; demnach ein Wechselspiel von Schein und Sein – behaftete Laura Mannion (schlicht überragend: Lee Remick) und der zutiefst humanistische Richter (Joseph N. Welch), der im wirklichen Leben abseits jeglicher Schauspielerei ebenfalls mit dem Beruf des… Richters kokettiert.

"Anatomie eines Mordes" ist wunderbare Nostalgie in bedrückendem Raum. Etwas anstrengend, ja, aber nicht zuletzt der Andersartigkeit und des dichten Drehbuchs wegen packend. Dies ist keine idealistische Abhandlung über Gerechtigkeit, wo nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit siegen kann, kein Film, der plakative Effekte bedient, wo die Grenzen zwischen Gut und Böse klar auszumachen sind, stattdessen angesichts seiner flüssigen Rededuelle, seinen Stars und seiner fast nihilistischen Betrachtungs- und Arbeitsweise auf eine nicht immer überzeugende Justiz und einigen nicht immer moralisch einwandfreien Vertretern dieser, gleichermaßen etwas fürs Auge, wie auch für den Verstand bietet.

7.5 | 10