Freitag, 14. November 2014

Aktion Lieblingsszene: Sieben Minuten Ewigkeit durch das Gitter der Freiheit


Jack Nicholson tut mir leid, aufrichtig leid. Für zwei Stunden hat er mein Mitgefühl. Dieser Koloss. Dieses Schlachtschiff aus Fleisch. Dieser Grobian. Diese schiere, wuchtige Masse ist erkaltet und zusammengefallen. Reisend. Suchend. Flüchtend. Zurückgeworfen in einen Urzustand, inhaftiert in einem Seelenreich unergründlicher Agonie, das weder oben noch unten, rechts noch links kennt und sich entlang der Gegenwartsbegehrlichkeiten voranschleppt. David Locke, Fernsehreporter und Überbleibsel systemtreuen Abnickens, bereiste die exotischsten Winkel des Erdballs, aber seine irdische Existenz weicht einer Kakophonie. Er sehnt sich nach dem Unbekannten, einer Bestimmung, den Dingen dahinter, einem unverdorbenen Ort jenseits dessen, was er bislang kennt. Die ausgestreckten Arme gen Himmel, der brüchige Blick ins Blaue, der steife Vorwärtsgang kapitulierend. David Locke, des Lebens überdrüssig, will zum Engel werden.

Michelangelo Antonioni hat Jack Nicholson als einer der einzigen gezähmt, die Bestie, aus der ein Träumer geschlüpft ist, die Kreatur, aus der ein Wesen geboren wurde. Aber die Kamera, die David Locke begleitet, über "Farben, Gesichter, Landschaften", weist ihm keinen Weg. Die Kamera hilft ihm, einen zu finden, einen zu fixieren, einen zu packen. Wenn Locke beginnt, sich schwerfällig in Bewegung zu setzen, greift die Kamera sich ein Stück Unendlichkeit, einen Brocken Fläche, einen Happen Horizont, tastet sich hinein, schwenkt richtungslos, zu einem möglichen Ausweg, neben Locke, hoch oben. Diesen scheint der lethargische Journalist erst später, am Ende, zu finden, denn wir selbst befinden uns immerhin in einem Film, einer Fiktion, einem Märchen, dennoch in einem Mosaik der Wahrheit. Sieben Minuten Katharsis. Die andächtigsten, sakralsten, friedlichsten sieben Minuten. Sieben Minuten einer Weiterreise, die dem Gesetz der Zeit entbunden ist.

Was zeigen diese sieben Minuten eigentlich? Locke auf dem Bett, schlafend, den Körper ausgestreckt. Genau wie sein neues Ich, David Robertson, die Leiche, die einst von Locke auf einem Hotelbett entdeckt wurde. Ein Kreislauf. Anfang. Ende. Die Kamera fährt auf einen Gitterverschlag zu, stockend, stotternd, wenige Meter bis zur Palme, bis zur Freiheit. Im Hintergrund ein Mann, zentral postiert. Ein Himmelswächter? Aktivitäten. Hunde. Kinder. Lockes Freundin. Orientierungslos schwirrende Menschen, Autos und Sand. Nachdem sich die Kamera ins Freie gewindet hat, schwenkt sie um. Sie passiert die Nebenzimmer, zurück zu Locke, der sanft eingeschlafen ist, für immer ruht. Antonionis finaler Kommentar zum Tod - spärlich festgehalten am Bildrand - versteht sich als Äquivalent zum theatralischen Sterben des Weltendramas. In diesen sieben Minuten entschwindet Lockes Seele. Wir wissen nicht, woran er stirbt. Wir wissen, dass er stirbt. Mit jedem Bewegungszentimeter. Sein Geist entweicht, sein Körper verbleibt.


Roland Barthes erkannte bei Antonioni drei allgemeingültige Tugenden, die einen vollfertigen Künstler von einem halbfertigen Künstler unterscheiden: Wachsamkeit, Weisheit und Zerbrechlichkeit.[1] Lassen sich Antonionis Werke als Suche begreifen, als Reise, die "überbrückt werden muss von jenen Charakteren, die willens oder unzufrieden genug [sind], die Reise anzutreten zwischen der Welt, in der sie sich gefangen fühlen, und jenem Horizont, der sie mit Freiheit lockt"[2], ist David Locke ein Abgesandter, ein Botschafter, "[dass] die Überzeugung, dass Bedeutung nicht plump im Gesagten endet, sondern fortlebt, fasziniert durch das, was nicht Bedeutung ist."[3] Im Tod David Lockes verschleiert sich eine abseitige Art von philosophischer Intimität, die sich schöpferisch keinen Sinn aufzwingt, ohne ihn aufzugeben.[4] "Beruf: Reporter" überlegt in dichterischen, romantischen Bildern. Denn Locke, eine archetypische Antonioni-Figur, erlangt schlussendlich jenen versöhnlichen Platz, der vorgesehen ist für unzählige isolierte Weltenzögerer vor und nach ihm.

Ich weiß nicht genau, was mir daran gefällt. Lieblingsszene? Nicht exakt. Eine Lieblingsszene. Ist es der Widerspruch der klaren Bilder, die fortwährend eine poetische Zweifelhaftigkeit in sich bergen?[5] Die auktoriale Kamera? Die technische Brillanz? Ich weiß nicht genau. Mir gefällt die Bewegung, die Montage, deren Einfühlsamkeit und deren feingeistige Reife, das Bild zu entfalten. Ich denke, nachdem ich Beruf: Reporter jedes Mal gesehen habe, Tage danach an sie, an diese Szene, die in mir etwas anreißt, das ich als schön, persönlich und hingebungsvoll empfinde, weil sie den Tod nicht metaphysisch überhöht oder künstlerisch verklärt. Ihr Gestus ist symbolisch und ihre Statik formalistisch, aber das Schweben zu einer erfüllenden Erwartung wesentlich und offen. Sie muss gefühlt und gesehen, aber nicht verstanden werden. Es reicht, wenn wir es bei Fragmenten des Erfassens belassen, bei einem gelben Himmelslicht, zu dem David Locke aufgestiegen ist. Liebe? Nachdenkliche Liebe.


[1] Barthes, Roland, zitiert nach: Chatman, Seymour: Michelangelo Antonioni - Sämtliche Filme. Taschen GmbH, Köln 2008, S. 7
[2] Arrowsmith, William, zitiert nach: Chatman, Seymour: Michelangelo Antonioni - Sämtliche Filme. Taschen GmbH, Köln 2008, S. 7
[3] Barthes, Roland, zitiert nach: Chatman, Seymour: Michelangelo Antonioni - Sämtliche Filme. Taschen GmbH, Köln 2008, S. 7
[4] Barthes, Roland, zitiert nach: Chatman, Seymour: Michelangelo Antonioni - Sämtliche Filme. Taschen GmbH, Köln 2008, S. 9
[5] Robbe-Grillet, Alain, zitiert nach: Chatman, Seymour: Michelangelo Antonioni - Sämtliche Filme. Taschen GmbH, Köln 2008, S. 9 


 unbearbeiteter Originalartikel