Samstag, 9. Juli 2011

In aller Kürze: "The Royal Tenenbaums" [USA 2001]


Würde das eindeutig-uneindeutige Attribut "normal" auf Familien, wie du und ich sie möglicherweise haben, zutreffen, die Tenenbaums wären garantiert nicht normal. Vorgetäuschte Krebserkrankung zur angepeilten Familienvereinigung angesichts zahlreicher Versäumnisse und Erschießung des Sohnes beim Ballerspiel mit echtem Schrot, obgleich im selben Team (begnadet diametral zu seinen diabolischen Schurkenrollen: Gene Hackman), voyeuristisches Stalker-Interesse am neuen Liebhaber (ein schwarzer, alter Sack; Danny Glover) seiner Noch-Ehefrau (Anjelica Huston), zwei literarisch wie sportlich anfangs phänomenal in die Höhe geschossene, später literarisch wie sportlich phänomenal in die Tiefe gefallene Jungs (Luke Wilson, Owen Wilson), ein paranoider zweiter Sohn (Over-Acting-Deluxe: Ben Stiller), der seine Söhne wiederum zu Weltmeisterschaftssprintern züchtigen will, um nach einem Feueralarm inklusive Hund unbeschadet aus dem imaginär brennenden Heim zu stolzieren (sie müssen dafür 16x pro Woche trainieren), eine seit 22 Jahren kettenrauchende, neunfingrige, aber Theaterstücke schreibende und sich täglich acht Stunden im Badezimmer einschließende, depressive Tochter (umwerfend: Gwyneth Paltrow), von der jeder annimmt, dass sie nie einen Glimmstängel gesehen hat. Es musste so kommen: Was folgt, ist die tägliche XXL-Dosis Familienmisere, das wilde Chaos introvertierter Gestalten und ihren persönlichen Differenzen zueinander, das mit Schlaglöchern übersäte Katastrophengebiet zwischenmenschlicher Beziehungslandschaften, die verzweifelte Suche nach dem Sinn des Lebens bei unerfüllter Liebe, Vergangenheitsbewältigung, Vergebung, Enttäuschung. Schicksal. Dicht versponnen, spielfreudig geschauspielert und doch auf eigenartige Weise liebenswürdig, das ist Wes Andersons dritter Spielfilm, ein pointierter Ensemblefilm, wo die Komik mit der Elegie einhergeht, mit schubkarrenweise Stars und pompösem Exterieur aus bunten Kulissen, poppigen Kleidern sowie erlesenen Kompositionen.

Anderson organisiert den Film selbstreflexiv wie ein Theaterstück in Kapiteln, einschließlich Pro- und Epilog. Die Fülle an popkulturellen Anspielungen, musikalischem Rundumschlag quer durch die Epochen und überbordender Fabulierkunst sieht es vor, jede einzelne Figur zunächst mit Zwischenüberschrift und Voice-over vorzustellen, bevor die Handlung beginnen kann. Dabei neigen "Die Royal Tenenbaums" nicht zu einer pathologisch-vielschichtigen, religiös unterfüttetern Analyse komplexer Unzulänglichkeiten lose verknüpfter Charaktere im Stile eines "Magnolia", Andersons Ansatz ist mehr ein satirischer, ohne seine skurrilen Protagonisten der Lächerlichkeit preiszugeben. Anderson karikiert seine exzentrische Sippschaft zwar genüsslich, aber nie zur Karikatur ihrer selbst. Man identifiziert sich, man erkennt sich wieder, nichtsdestotrotz. Der Witz zündet häufig, ist nie zu doll und nie zu Konsens, er ist sanft und lakonisch und manchmal sogar richtig wohltuend in der Kunst des Zurücknehmens infantiler Schenkelklopfer, es ist der unverbrauchte Anderson-Humor, oft ist ein einziger lustiger Satz ausschlaggebend, ein einziges lustiges Wort ("Verpissen wir uns."), ein einziger lustiger Meinungsaustausch. Die Regieideen sind vielseitig, sind nie zu artifiziell, nie auf ihre bloße Schrägheit reduziert. Und immer, wenn man versucht ist zu glauben, Anderson laufe Gefahr dann doch in die verkitschte Kerbe aufgesetzter Rührseligkeiten zu schlagen (so, als Eli Cash, verkörpert von Owen Wilson, sich unter Tränen freiwillig zur Drogenklink einweisen will), immer, wenn man also zu glauben scheint, der Film sei naiver als er vorgibt, ist der Film in Wahrheit intelligenter als der Rezipient selbst: Cashs sentimentales Versprechen diente als Lüge für die Flucht. Fernab des kleineren Mankos der tatsächlich viel zu abrupten Katharsis Royal Tenenbaums (kurioserweise am unmoralischsten und gleichzeitig am verletzlichsten, dieser Royal Tenenbaum) vermittelt Anderson den wiederhergestellten Familiensegen nicht euphorisch als einseitige Erkenntnis, sondern hoffnungsvoll als Chance, weil es schwer ist, den inneren Schweinehund urplötzlich vollständig zu überwinden. Fehlt nur noch Aimee Mann. Wise Up! Save Me! Oder gleich beides. Wäre ihm der andere Anderson nicht zuvor gekommen.

7/10