Montag, 15. Februar 2010

"Tote schlafen fest" / "The Big Sleep" [USA 1946]


Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, den Zuschauer trotzdem an der Leine zu halten, wenn die erzählte Geschichte derart konfus ist, dass man nicht in der Lage sein kann, alles restlos zu verstehen? Kann man ihn dennoch vor den Bildschirm zerren? Klar, natürlich, man mache es zum Beispiel wie Howard Hawks. Man mache es zum Beispiel wie "Tote schlafen fest", ein klassischer Film Noir zwar, der die Brücke zum unkonventionellen Film Noir dann aber doch mühelos schlägt. Zugunsten einer schlüssigen narrativen Logik greift Hawks lieber auf ein ästhetisches Stelldichein aus doppelbödigen Metaphern und repetitiven Symbolen zurück. Die Logik des Plots ist hier eher sekundär, umso wichtiger, umso fundamentaler die Wirkung der Bilder, mit der der Regisseur arbeitet. Möglicherweise noch nie wurde in der "Schwarzen Serie" so oft Auto gefahren, noch nie so viele Türen geöffnet und wieder geschlossen. Und noch nie waren diese scheinbar bedeutungslosen Nebensächlichkeiten so zwingend für ein dramaturgisches Korsett eines Spielfilms. Hawks schuldet nichts, gar nichts dem Zufall. Alles ist Berechnung, Kalkül, so gewollt vom Drehbuch, vom Produktionsteam, für sein rätselndes Publikum.

Über 30 Mal geht Humphrey Bogart als Privatdetektiv Philip Marlowe durch Türen, durch geschlossene wie auch durch offene. In Anbetracht der Lauflänge des gesamten Films kann man ihn also nach wenigen Minuten dabei beobachten, wie er die Klinke in die Hand nimmt. Er schreitet ein, allerdings ohne Waffe (weshalb auch?), er betritt Zimmer, geht wieder hinaus. Marlowe rennt und läuft viel in "Tote schlafen fest", sein Beruf beschäftigt sich nicht nur mit diversen Abhörtechniken, sondern vor allem mit dem, was zwischen den Türen liegt, mit dem Abwarten, Belauern und nicht zuletzt dem (manchmal gewaltfreien, manchmal gewaltsamen) Eindringen in Räume. Hawks nutzt diese Türen als Metapher. Für ihn verkörpern sie einerseits Spannungsmomente, andererseits leiten sie jeweils eine neue Szene ein (Öffnen – Beginn; Schließen – Ende), können demnach als essentielle dramaturgische Logikbrücken gesehen werden, um überhaupt erst einmal einen rudimentären Zusammenhang des Plots herzustellen.

Dabei weiß der Zuschauer nicht, was ihn nach jeder Tür erwartet. Eine unerwartete Wendung? Ein unbekanntes Gesicht? Ein Verbrechen? Einen Mord? In einer Szene treibt Hawks die Spannung im Zuge jener interessanten Türthematik auf die Spitze. Marlowe und der Tatverdächtige Brody (Louis Jean Heydt) unterhalten sich über ein gestohlenes Aktfoto und über den Mord an einem Chauffeur der Sternwoods. Plötzlich klingelt es. Der Zuschauer weiß nicht, wer und zu welchem Zweck. Bis er feststellen muss, dass an der Tür Carmen Sternwood (Martha Vickers) ist, um Brody zur Rede zu stellen, mit gezogener Waffe. Die Situation kann bereinigt werden. Marlowe und Brody unterhalten sich weiter. Plötzlich klingelt es. Der Zuschauer weiß nicht, wer und zu welchem Zweck. Wieder einmal. Brody öffnet, es fallen laute Schüsse. Brody sackt zusammen, er wurde niedergeschossen.


Auch Autos als Fortbewegungsmittel spielen eine gewichtige Rolle in "Tote schlafen fest". Mal als Tatort (der ermordete Chauffeur), mal als Treffpunkt für eine (vielmehr die) 200-Dollar-Information, dann wieder als geeignetes Instrument für eine Verfolgungsjagd, als Marlowe im Zuge dieser eine Taxifahrerin kennenlernt, die ihn sogar – nicht aber während der Arbeitszeit! – weiter kontaktieren würde. Und um in erster Linie von A nach B zu kommen, vom, wenn man so will, Tatort zur "sicheren Zone" und zurück. Marlowe selbst, neben den klassischen Bogart-Gestiken wie dem Zähnefletschen und dem beidhändigen Griff an den Gürtel, kann insbesondere sein inflationäres Ohrläppchengreifen zum Besten geben. Fraglich hierbei bleibt allenfalls der Sinn dieser äußerlichen Chose. Auf den ersten Blick zupft Marlowe immer dann am Ohr, wenn er nachdenkt, ins Grübeln gerät. Kann dieser notorische Vorgang nicht auch ein Hinweis auf seinen analytischen beziehungsweise scharfsinnigen Verstand sein, oder eher darauf, dass der Detektiv etwas wittert, eine Ahnung bekommt von dem, was ihm begegnet und es endlich in einen Kontext zu setzen erhofft?

Genau wie Raymond Chandlers labyrinthische Romanvorlage, anzusiedeln im Hardboiled-Genre, gilt es abseits dieser Frage noch viele weitere zu beantworten, die wiederum neue aufwerfen. Der Film gleicht einem Traum eines "großen Schlafes", "The Big Sleep" eben: voller Widersprüche, Finten, Manipulationen, wirr und sprunghaft, bisweilen surreal sowie in höchstem Maße anstrengend. Es fällt zunehmend schwerer, der äußerlich trivialen, innerlich umso komplexeren Sex, Crime and Violence-Story zu folgen. Eine Menge Namen tauchen auf, eine Menge an Intrigen, Lügen, Täuschungsmanövern und Hintergründen, während das Figurengeflecht kompliziert zu durchschauen und zu entschlüsseln ist, wer nun was aus welchem Grund getan hat. Der für Chandler exemplarisch ruppige Großstadtkrimi wirft mehr Fragen auf, als dass er bereit ist, diese zu beantworten. Er erläutert uns nicht, warum General Sternwood (Charles Waldron) nach anfänglichem Auftritt (der stellvertretend dazu an eine Szene aus "The Big Lebowski" erinnert) plötzlich aus der Handlung verschwindet.

Oder was aus Carmen passiert, die anscheinend an einer psychischen Störung leidet, jene pathologische Disposition vorher aber nie explizit angesprochen wurde. Vergeblich sucht der Zuschauer nach einer Antwort auf die Frage, warum Geiger auf seinem Bett aufgebahrt ist, wer Owen Taylor (Dan Wallace)  wirklich getötet hat und warum der Film zu keinem Zeitpunkt das eigentliche Verbrechen zeigt, ja sich selbst dem Andeuten verweigert. Hier ist alles, einschließlich der Wahrheit, verworren, zweideutig und ungewiss. Sorgen machen muss man sich deshalb aber noch lange nicht. Denn wenn im Rahmen einer der legendären Anekdoten um diesen Film nicht mal mehr Howard Hawks genau weiß, durch wessen Hand eine der zahlreichen Nebenfiguren ums Leben gekommen ist, und er daraufhin Raymond Chandler um Hilfe bitte, der es aber auch nicht mehr weiß und im Zuge dessen weitergedreht wird, ist das bezeichnend für dieses Werk und seine Erzählhaltung.


Nichtsdestoweniger bringt "Tote schlafen fest" allerdings das Kunststück zustande, dass die Ungereimtheiten des Drehbuchs aufgrund der Spannung, des enormen Tempos und ausgeklügelt geschliffener, größtenteils erotisch aufgeladener Dialoge fast vollständig vergessen werden, ebenso wie markige, pointierte Sprüche und Situationen das unterstützen (man denke an die Verwandlung Marlowes im Bücherladen). Hollywood legt nicht Wert auf geschlossenes Erzählen, sondern auf Wirkung – und Präsentation. Obwohl man sich als Zuschauer über die narrativen Lücken wundert, kann man nicht sagen, dass man nicht trotzdem unterhalten wird, was hauptsächlich Howard Hawks' Regie und der erfrischenden Leichtigkeit geschuldet ist. Schon wie er die Stadt der Engel, in der Träume produziert werden, Los Angeles also, als dreckiges Großstadtungeheuer entlarvt, evoziert viel Atmosphäre, echte Noir-Atmosphäre. Hawks kennt keine Regeln, keine Moral, keine Richtlinien, keine Freunde, die einem helfen, sein Blick ist ein äußerst pessimistischer.

Die Figuren verharren oftmals im Halbdunkel und sind mindestens genauso dunkel im Charakter. Allesamt Lügner und Betrüger. Die ihre Drecksarbeit anderen auferlegen. Die, die sich schnell auf die Fresse schlagen, ohne zu debattieren, ohne Verhandlungen; das einzige Kommunikationsmittel zwischen ihnen repräsentiert Gewalt. Deshalb ist der Bodycount ein recht hoher in "Tote schlafen fest", bei dem Menschen einen skrupellosen Tod sterben. Schnell und hart. Die Umgebung als solches, sie ist depressiv und weniger fröhlich. Fast ständig fängt es an zu regnen, Nebel taucht auf und verschwindet. Fast durchgängig breitet Hawks seine Handlung bei Nacht aus und wird damit abermals dem düsteren Tenor des Films gerecht. Komplettiert durch Sid Hickox' eleganter Kamera samt virtuosem Spiel von Licht und Schatten, als auch durch Max Steiners familiär klingenden Score kristallisiert sich ein wahrhaft unbarmherziger, amoralischer Verbrechenshort heraus, in einem asphaltierten Dschungel, der aus den Fugen geraten ist. Selbst das scheinbare Happy End mag bei näherem Hinschauen genau dieser Gefühlswelt zu erliegen, da wir als Publikum nicht wissen, wie es mit Vivian (Lauren Bacall) und Philip weitergehen wird.

Humphrey Bogart (nach Chandler ursprünglich für die Rolle vorgesehen: Cary Grant) interpretiert seinen Detektiv hierbei als ausgesprochen zynischen, süffisanten, aber auch verletzlichen sowie illusionslosen Kopf als eine Art Prä-James Bond im zerknitterten Trenchcoat, der die Frauen verführt, in der Gegend rumballert und, natürlich, humorvoll sein darf. Und der vor allem durch sämtlichen Schmutz und jegliche Korruption einer kaputten Welt gehen muss, um des Rätsels Lösung zu finden. Dieser Privatdetektiv, der für 25$ – plus Spesen, versteht sich – am Tag arbeitet, trinkt Whiskey "aus einem Glas", sammelt gern "Blondinen in Flaschen" (berühmt sind seine jovialen Kommentare gegenüber Frauen, wenngleich "Tote schlafen fest" der verdeckten Küsse, dem angedeuteten Aktfoto, Carmens Drogensucht halber und dem amerikanischen Zensursystem als moralisch vertretbarer und somit als prüder Film gesehen werden darf – im Gegensatz zur deutlich provokanteren Vorlage) und wäscht (gezwungenermaßen) die dreckige Wäsche seiner Klienten. Eine Drohung kann ihn nicht abhalten, eine Pistole schon gar nicht ("Das kann mir nicht imponieren").


Er bleibt stets cool, er hält seine Gegner gern zum Narren, er lässt sich von niemandem unterordnen, weil er diese finstere Halbwelt in- und auswendig kennt, ihre Schattenseiten und die Tricks, ihr zu entkommen. Ein Mann mit starkem Charakter, ein Einzelgänger mit unausweichlichem Charme, auf der Suche nach der Wahrheit, immer mit einem trockenen Spruch auf den Lippen. Bogart spielt hervorragend und souverän. Trotz seiner eingeschränkten, minimalistischen Körpersprache zaubert er das Maximum seiner Fähigkeiten aufs Parkett. Mit Vivan Sternwood Rutledge steht ihm nicht nur eine schöne, auch eine kultivierte, kokette, selbstbewusste wie distinguierte Dame zur Seite, die ebenfalls gern Spiele spielt, wild wie eine Raubkatze ist und ihr jeweiliges Gegenüber hinters Licht zu führen versucht. Über diesen beiden, zwischen hartgesottenem Antiheld und feuriger Femme fatale, die sich bald nach Drehende tatsächlich das Jawort gaben, weht ständig der Duft knisternder Erotik. Als sich sie sich im Schlafzimmer anfauchen – und das passiert des Öfteren – liegt der lang ersehnte Kuss zwar in der Luft, aber sehen kann man ihn deshalb noch lange nicht. Allenfalls in der Fantasie des Zuschauers.

Martha Vickers als nymphomane Lolita Carmen Sternwood weiß ebenso zu überzeugen wie John Ridgely als adretter Gangsterboss Eddie Mars mit seinem fiesen Gehilfen Canino (Bob Stelle). Ungemein köstlich, wenn sich Marlowe im Haus von Geiger (das wiederum Mars gehört) verbal duelliert. Ein kleiner Höhepunkt zweifelsohne: "Ist es Ihre Angelegenheit?" – "Ich könnte sie zu meiner machen" – "Und ich die Ihre zur meinen" – "Es würde Ihnen nicht gefallen. Die Bezahlung ist zu schlecht". Dann wäre noch die interessante, Marlowe in gewisser Weise ebenbürtige, verruchte Agnes (Sonia Darrin) übrig, Geigers Sekretärin, die ihre eigenen Pläne schmiedet, jedoch viel zu wenig beachtet wird und lediglich in zwei kleineren Szenen zum Einsatz kommt.

Chandlers "großer Schlaf", Hawks' darauf aufbauende Verfilmung, das ist unterm Strich, sobald man mit Philip Marlowe inklusive Whiskey und, ganz wichtig, Zigaretten durch die Gassen einer verwinkelten, bedrohlichen Großstadt geistert, auf der Jagd nach zwielichtigen Gestalten, und so allerhand mysteriöse Wendungen hinnehmen muss, in erster Linie tadellos funktionierender Unterhaltungsfilm, lakonisch, dicht, erstklassig gespielt und beeindruckend geschrieben. Andererseits ein wegweisendes Produkt des Film Noir, das seinerzeit den bis dahin geläufigen erzählerischen Konventionen einen Strich durch die Rechnung machte. Man muss den Film gar nicht vollends verstehen, um ihn zu mögen.

6 | 10