Mittwoch, 26. August 2009

Literatur: "Zirkuskind" / "A Son of the Circus" [John Irving, 1995]


Eine halsbrecherische Berg- und Talfahrt, eine schillernde Reise durch Indien und nicht zuletzt ein Arzt- und Zirkusdrama der besonderen Art erwartet den Leser, wenn er sich in die Welt von John Irvings "Zirkuskind" begibt. Denn bereits nach kurzer Zeit kristallisiert sich der Verdacht heraus, dass "Zirkuskind" ein gewaltiger Roman ist. Gewaltig dahingehend, als dass Irving einmal mehr ein dickes, komplexes und vielschichtiges Buch geschrieben hat, dass sich ganz seinen fabulierten, auf den ersten Blick täuschend irrelevanten, dann aber umso wichtigeren Details und seinen illustren Persönlichkeiten verschreibt. Da verwebt Irving virtuos unzählige Handlungsstränge, Hauptlinien, Nebenlinien miteinander, zerbröselt sie wieder, löst sie auf, sodass der Leser gefordert ist, die fragmentarische Erzählhaltung zu einem kohärenten Ganzen zu erfassen und zusammenzufügen. Der Altmeister arbeitet mit Schnitten, Blenden, Flashbacks; er zeichnet darüber hinaus ein pralles, aus unzähligen Randnotizen und Verstrickungen und Beziehungen durchzogenes, indisches Zeit- und Sittengemälde, das sich zwar gelegentlich zu verzetteln scheint, jedoch erst durch seinen ebenso tragisch-komischen wie melancholischen Charakter seine wahre Stärke bezieht. 

Selbst der Kern der opulenten Erzählung, die Aufklärung eines Kriminalfalls, verkommt letztendlich zum Randereignis und dient ohnehin nur als narrativer Aufhänger, was dazu führt, dass sich Irving erst gar keine große Mühe macht, den Fall spektakulär zu entschlüsseln, geschweige denn unvorhersehbar zu konstruieren. Stattdessen versucht Irving lieber die Realität, das wirkliche Leben in Bombay und Umgebung als solches, auf radikale Art und Weise zu reflektieren. Aspekte wie die Thematisierung des Kontrasts zwischen Arm und Reich in Indien, die nur peripher vorhandenen Menschenrechte, das Filmgeschäft, die Gesundheitspolitik, der Zirkus sowie Kindprostituierte, Transvestiten und Transsexuelle sind dabei nur wenige von vielen gesellschaftlichen Tabuthemen, die von John Irving aufgegriffen und schließlich durchleuchtet werden.

Wie nahezu jeder John Irving-Roman lebt und fällt auch "Zirkuskind" mit seinen sorgfältig ausgearbeiteten Figuren, mit schrulligen, aber doch liebenswerten Akteuren, mit exzentrischen, individuellen, durch und durch skurrilen Persönlichkeiten, die gerade wegen ihrer Laster und Leidenschaften so greifbar erscheinen. Da taucht ein pummeliger, vernünftiger Doktor als Hauptfigur auf, der in seiner eigenen kleinen Welt zu leben scheint, und der sich manchmal aufgrund der turbulenten Umgebung und einigen seiner Zeitgenossen ganz schön einsam und verloren fühlt – auch das Außenseitertum beleuchtet Irving im autobiographischen Sinne. Da gibt es den naiven, tiefgläubigen, aber doch als Retter konzipierten Scholastiker nebst seinem Zwillingsbruder, einem gefeierten Filmstar, der ebenso eine Quelle manch' verrückter Situation verkörpert (der Verwendungszweck der Papiertücher auf der Toilette).

Da sehen wir ein Hippie-Mädchen aus Iowa und ihren Drogendealer aus Deutschland und tollwütige Schimpansen, unausgeglichene Elefanten, Missionare, (un-)echte Polizisten als kühle Schönheiten, Deckenläufer, Bettler, eine kastrierte Transvestiten-Prostituierte als das Böse und der Killer. Nicht zu vergessen: gewalttätige Zwerge als Blutspender und Mr. Sethna, ein intoleranter Butler, der alles und jeden missbilligt. Nebenher wird "Zirkuskind" von vergleichsweise starken Frauenbildern und tendenziell schüchternen Männern bevölkert, ebenso wie von homoerotischen Momentaufnahmen und Ventilatoren als fortlaufendes Symbol. Absonderliche Typen mit ihren von Höhen und Tiefen durchzogenen, zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie nur John Irving zelebrieren kann.

Hinzu kommt Irvings stets sarkastischer Humor, der zumeist dafür sorgt, dass "Zirkuskind" eine Reihe von Szenen beinhaltet, die nicht selten ins Makabre und Bizarre abdriften. So auch die aberwitzige Dildo-Passage, ein Highlight im Buch, und die des Autors erzählerische Vorliebe fürs Masturbieren widerspiegelt, ebenso seine Affinität zu Charles Dickens in den blumigen Überschriften eines jeden Kapitels. Doch wo "Zirkuskind" seitens der Charaktere und des Humors eindeutig alles richtig zu machen scheint, hapert es gelegentlich in der Narration. Hierbei muss konstatiert werden, dass der Roman im Tenor ruhig und behutsam erzählt wird und darüber hinaus manch' philosophische Zeile offenbart, was sich allerdings auf die Dramaturgie auswirkt.

Denn "Zirkuskind" wirkt nach gelungenem, da vielversprechendem Anfang mit der Zeit zu einschläfernd, zu klebrig und zu monoton, als dass das Buch den Leser weiter zu fesseln vermag. Oftmals schreibt und schreibt und schreibt Irving, ohne dass er (insbesondere gegen Ende) ein paar nennenswerte Höhepunkte aufweist. Auch die Martin-Mills-Episode wirkt bisweilen zu ausführlich und unnötig in die Länge gezogen, ganz zu schweigen vom Epilog, bei dem sich ein ausgesprochen schönes Ende an das nächste reiht, aber jedes von diesen übergangen wird, sowie der "verdeckte Einsatz", Rahul mittels selbst geschriebenen Drehbuchdialogen beim Tanzen festzunehmen. Irvings Abschied von seinen Charakteren hätte einer expliziten Kürzungsprozedur de facto sicherlich gut getan. Zumindest überzeugt wiederum das letzte, da wunderbar poetische Kapitel des Buches; neben dem staubtrockenen Dialog zwischen den beiden Zwillingsbrüdern und Dr. Daruwalla – zwei kleinere, grandios geschriebene Momente, denen man in den letzten Winkeln nicht mehr allzu oft begegnet.

Trotz etwaiger und oben tangierter Defizite darf "Zirkuskind" dennoch als verschlungenes, kunstvolles, überschäumendes und aufregendes Essay über Indien, über dessen Bevölkerungsgruppen und über verschrobene Skurrilität resümiert werden. John Irving ruft das volle Programm seiner überbordenden Kreativität ab und präsentiert ein von Grund auf ambivalentes Buch: rau, irrsinnig, kompromisslos, aber doch so gefühlvoll, charmant und vor allem: menschlich und bewegend.