"Dolores" ist vom Schreibstil her ein strukturell gänzlich anderes Buch von King. Der Roman besteht aus nur einem einzigen Monolog und hat darüber hinaus weder eine Kapiteleinteilung noch spezifische Textbegrenzungen aufzubieten. Dolores Claiborne erzählt in einer auslandendem Art Verhör in einem Polizeirevier ihre ganze Lebensgeschichte aus der Ich-Perspektive, und King versetzt sich derart mehrschichtig in diese Frau, dass man automatisch mit Dolores mitfiebert und mitleidet. Den Wahnsinn einer reichen Witwe, bei der sie als Haushälterin angestellt war und ihres Mannes miterlebend, plante Dolores sogar ihren Mann umzubringen, was letztendlich auch in die Tat umgesetzt wurde. Das endlos lange und grausame Szenario seines Todes darf sich als einer der Höhepunkte dieses zwei parallele Lebensabschnittslinien bebildernden Buches bezeichnen.
King nimmt dabei den Leser mit auf eine Reise, die von enormen Enttäuschungen, existenziellen Konflikten und vielen Schattenseiten des Lebens begleitet wird. Übernatürliche Elemente sucht man vergeblich, der Horror entsteht aus menschlichen Problemen und King beschreibt das von Schwarz und Weiß durchzogene Leben Dolores' als infernalischen Alptraum, der aber hin und wieder mit schwarzem Humor und heiteren Passagen (etwa die "Kackbomben") aufgelockert wird. Dabei bleibt die Story immer fesselnd, immer spannend, immer dicht am menschlichen Gefühl, an der Wärme, Empathie und Liebe, schlussendlich an der Emanzipation, wenn eine Frau im Zentrum der Geschichte die Nähe zu ihren traumatischen Erinnerungsbruchstücken sucht und sich dabei nicht unterkriegen lässt. Ein zu Unrecht unterschätztes Meisterwerk, hingebungsvolles Melodram und einfühlsame Charakterstudie. Trunken vor Liebe, Selbsterkenntnis und Weisheit.
"Die Zeit ist ein Stück Meer, genau wie das zwischen den Inseln und dem Festland, und die einzige Fähre, mit der man sie überqueren kann, ist die Erinnerung. Aber die ist so etwas wie ein Gespensterschiff – wenn man will, dass es verschwindet, dann tut es das."