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Mittwoch, 21. November 2018

"The Ballad of Buster Scruggs" [USA 2018]


Um gleich mit einem hartnäckigen Missverständnis aufzuräumen, hatten die Coens ihren ersten Netflix-Film "The Ballad of Buster Scruggs" nie als Serie geplant. Nichtsdestotrotz blieb eine episodische Anthologie-Struktur von vornherein erhalten. Die Aufregung war ihr Werk nicht wert: Die Coens – und das durchzieht den Großteil ihres Spätwerks nach "No Country For Old Men" (2007) – schaffen zwar den Sprung in die Streaming-Welt des Westerns, geben sich scheinbar aber nach wie vor mit einer eingeschränkt sättigenden Vorspeise zufrieden, die den Appetit auf ein Hauptgericht anregt, das seit Jahren in Bearbeitung ist. Auch "The Ballad of Buster Scruggs" leidet zu großen Teilen an einer selbstdarstellerischen Nichtigkeit für die Galerie.

Sechs Geschichten, sechs Kurzabenteuer, sechs Binnenerzählungen. Das Buch wird aufgeschlagen, die Seiten umgeblättert, die Bilder betrachtet, der erste Satz gelesen. 

Zeitreise:

THE BALLAD OF BUSTER SCRUGGS 

Als ob der Dude mit seinem Teppich irgendwo in der Wüste gelandet wäre, reitet, besingt und bläst Tim Blake Nelson frohgemut und tiefenruhend den Sand vom felsigen Gestein. Niemand vermag ihn zu stören. Der Horizont schweigt, das Pferd wiehert. Buster Scruggs (Nelson) kann schießen wie der Teufel, handelt – selbst ohne Waffen – effektiv und stellt sich jedem Duell. Die Coens zeigen sich in ihrer Frühform, als sie Charaktere schufen, die auf einem Planeten strandeten, dort nicht fortkamen und, sobald sie einen Fuß ins Erdenleben setzten, von dessen Unglaublichkeit übermannt wurden. Buster Scruggs ist ein Typ, den die Brüder verehren. Deshalb wird sein Geist auch im Himmel musizieren. Ein Einstieg, der die Coen-Katastrophe abwendet und in Beschwingtheit stirbt. 

NEAR ALGODONES 

Die meisten Figuren der Coens wissen um ihre Kontrolle, aber die wenigsten Figuren der Coens wissen, wann sie nicht mehr die Kontrolle haben. James Franco spielt einen Cowboy, der die Kontrolle hat. Der Bankraub scheint zu funktionieren, bis sich der Bankdirektor (Stephen Root) mit Pfannen und Töpfen wehrt – der Cowboy baumelt am Strick, wird gerettet und baumelt am Strick. Die kürzeste Episode des Films erzählt einen Gag umständlicher als notwendig, da die Pointe absehbar ist. Die Digitalfotografie von Bruno Delbonnel überzieht das Geschehen währenddessen mit einer artifiziellen Schicht zu Gold gebranntem Edelstahl, so ahistorisch, dass ein Schild vor einem Brunnen vor dem schlechten Wasser im Brunnen warnt.


MEAL TICKET 

Menschlich waren die Coens immer, melancholischer selten: Ein Rumpf ohne Arme, ohne Beine (Harry Melling) zieht mitsamt seinem Impresario (Liam Neeson) von Land zu Land, um tröstliche Worte aus der Bibel zu sprechen. Der Rumpf ist die Attraktion, der Beifall angemessen, die Münzen im Hut, der wandert, kläglich. Jede Schneeflocke kündet von einer eisigen, rauen Zeit. Der Rumpf, den ein verletzlicher, zarter, schutzbedürftiger Junge hat, spricht nicht mit dem sich betrinkenden Impresario am Lagerfeuer. Eine Zweckgemeinschaft. Und die Coens finden Bilder, die Kain und Abel modernisieren: Der Junge konkurriert mit einem Vogel, der rechnen kann. Der Junge konkurriert mit seinem Vater. Der Vater verließ seinen Jüngeren. Ein Stein plumpste tief. 

ALL GOLD CANYON 

Aus dem stickigen Hotelzimmer zu einer idyllischen Wiesenutopie – "Barton Fink" (1991) einmal anders gedacht. Tom Waits will Gold finden, das Paradies reagiert, die Tiere flüchten. Der Ort verharrt. "All Gold Canyon" ist die schönste Episode aus "The Ballad of Buster Scruggs". Die Coens erzählen von einem Abarbeiten, das einer fragmentarischen Wiederholung ausgesetzt ist. Für kurze, kostbare Augenblicke ist die Vorfreude spürbar, in der der Goldsucher die Stückchen abzählt, die unter dem Schlick hervorblinzeln. Viel geschieht nicht, das Jetzt ist die Erzählung. Nach einer unwahrscheinlichen Auferstehung, einem Schuss in den Rücken, der alles Wichtige verfehlte, verschwindet der Goldsucher. Das Paradies kehrt aus dem Schatten zurück, die Tiere leben.


THE GAL WHO GOT RATTLED 

Die fünfte Episode bildet, zusammen mit der sechsten Episode, den vergleichsweise nichtssagenden, schwerfälligen Abschluss dieses uneinheitlich spannenden Geschichtenkompendiums: Entlang eines Waggonzuges findet Alice Longabaugh (Zoe Kazan) eine neue Liebe (Bill Heck). In aller melodramatischen Gespreiztheit tauschen beide doppeldeutige Zärtlichkeiten miteinander aus und werden stets gestört von einem Hund, der auf den Namen eines Präsidenten hört. "The Gal Who Got Rattled" löst gegen Ende einen actionreichen Pessimismus ein. Die Coens empfehlen sich damit als versierte Handwerker, die einen Schlagabtausch druckvoll choreografieren können, aber auch als Filmemacher, denen manchmal die größtmöglich abgedroschene Lösung einfällt. 

THE MORTAL REMAINS 

Eine Kutsche, die nicht Halt macht, ein Kutscher, der wie Satan höchstselbst die Pferde antreibt. Eine Prise Fantasy-Gothic schmückt "The Mortal Remains". In dieser Kutsche sitzen fünf Passagiere, die über – selbstverständlich – Gott und den Himmel, Luzifer und die Hölle, Rechtschaffenheit und den alltäglichen Sündenpfuhl debattieren. Die Kutsche als Politkabine. Der Dialoganteil ist überbordend, das Gesagt selbst aber eher mühselig zu verfolgen. Ein schlechterer Tarantino-Epigone hätte sich mit diesem altklug-redundanten Intermezzo zufriedengegeben, aber der echte Tarantino hat, für "The Hateful Eight", eine Kutschenszene gedreht, die grundlegend nuancenreicher das Wort in einem Raum bewaffnet, aus dem es kein Entkommen gibt.

Das Buch wird geschlossen. Es landet schief auf anderen Büchern.

Montag, 5. August 2013

Spielberg-Retro #18: "Lincoln" [USA 2012]


"Lincoln" irritiert: Für Spielberg-Verhältnisse vergeht eine ungewöhnlich lange Zeit, ehe das (hierfür eigentlich prädestinierte) Pathos zuschlägt. Die Überproduktion an Gefühlsentladungen, die Anhäufung von überdramatischen Ausschreitungen – alles ist zunächst verkleinert und streng nach Vorschrift proportioniert. Ein wertfrei erzählter Spielberg scheint sich erstmals anzukündigen, ausgerechnet einen uramerikanischen Legendenstoff unamerikanisch auf popkulturverträgliches Miniformat einzustampfen, großen Teilen des Publikums Geschichtswissen leichtverdaulich zu verkaufen. 

"Leichtverdaulich" allerdings auch nicht unbedingt. Dafür flirtet der Film in den ersten erzählerischen Zuckungen mit der Redundanz seiner üppigen Anekdoten im undurchschaubar vernetzten Politik-Rummel schlichtweg zu ausführlich und tempodrosselnd, dass es praktisch klebrig wirkt; mit der Akribie seiner Requisiten und einer Ausstattung vor allem, in der jedes Detail überprüft wurde, damit es die Bescheiden- und Kargheit des Raumes unterstreicht, um sich voll und ganz auf die zwischenmenschliche Debatte darin zu konzentrieren. So natürlich und nuanciert wie Daniel Day-Lewis den titelgebenden Präsidenten ohne egomanische Ausfallserscheinungen, aber voll an warmherziger Güte verkörpert, so entschleunigt und nüchtern inszeniert Spielberg historisches, auch universell zu lesendes Aufklärungskino über die widersprüchliche Komplexität der gesetzmäßigen Richtigkeit in demokratischen Staatsapparaten, das gekonnt eine Symbolfigur mythologisch festigt, indem es sie ausschließlich in strengen Licht- und Schattengegensätzen (wie immer: Janusz Kaminski) herausstellt. 

Der (womöglich unbeabsichtigte) Sinn dahinter dürfte sein: Lincolns ehrbare Motive, in politischer Überzeugungsarbeit, die nicht immer den Weg des Legalen einschlugen (Schatten), dafür zu kämpfen, die Sklaverei abzuschaffen (Licht), resultiert weniger aus nachvollziehbaren Gründen, als aus jenen, die rudimentär in der Schwebe hängen und im Dunkeln verborgen sind, weil Lincoln an die bloße Funktionalität dessen geglaubt hat, was er durchsetzen wollte. Nach "Lincoln" wird einem Abraham Lincoln deshalb vermutlich kein Stück näher gekommen sein, weil Spielberg die Ambiguität einer Respektperson vorzugsweise inhaltlich ausspart, die sich auf das gleichzeitig Menschliche wie Couragierte beschränkt, aber den Schatten nicht ausreichend (!) artikuliert. 

Spätestens in diesem Aspekt verklärt Spielberg zum wiederholten Male eine tragische Gestalt revisionistisch zur immerwährend strahlenden Lichtgestalt, zur behaupteten Ikone, die eine beweiskräftige Ikone im amerikanischen Selbstverständnis sein muss; im Kino, das jetzt zum konservativen Spielberg-Kino mutiert ist. Zwischen unzähligen Interessen und Konflikten (faszinierend die Kompassmetapher sowie die Euklid-Diskussion), die einander schneiden und konkurrieren, zeigt Spielberg die beiden daraus hervorgegangenen Schlüsselszenen überraschenderweise nicht aus der Nähe, da weder der Ausgang der geglückten (imponierend pathetischen) Abstimmung des gesetzlichen Sklavenverbots noch das tödliche Attentat im Theater direkt veranschaulicht werden. Den Ausgang gestaltet Spielberg per Glockenton, wenn der Präsident – und das ist ein weiteres Indiz für die Strategie Spielbergs, Lincoln zu idealisieren – am Fenster zwischen den Vorhängen steht, die ihn engelsgleich verhüllen, während der Tod Lincolns zuerst im Gesicht seines Sohnes, also eines Kindes, beklemmende Unbegreiflichkeit erfährt. Dann hat Spielberg ungewohntes Territorium endgültig verlassen, die Emotion lässt alle Dämme brechen. Entladung… jetzt! 
6 | 10

Mittwoch, 10. Juli 2013

Spielberg-Retro #13: "Minority Report" [USA 2002]


Vieles ist "Minority Report", Spielbergs unmittelbar nach "A.I. – Künstliche Intelligenz" folgender, zweiter Zukunftsentwurf im neuen Jahrtausend; er ist detektivischer Kriminalfilm, ein verschraubtes, vordergründig auf den Twist schielendes Überraschungsdrama und deterministische Schicksalsphilosophie über die Unumkehrbarkeit der Zeit, über die anzuzweifelnde Ethik des vorverurteilenden Strafvollzugs, über Schulfragen, Todesbotschaften und Rachegedanken in einem nicht näher beschriebenen Zeitalter ausufernder Gewalt, staatlich legitimierter Kontrolle und informationsvernetzter Transparenz, in dem mehr Maschinen das menschliche Zusammenleben definieren, als Menschen den Nutzen ihrer technologischen Helfershelfer gegenrechnen. Ein widersprüchlicher Zwischenraum, Utopie wie Dystopie. 

Dieser farblich ausgewaschene Knotenpunkt ist in seinem überbordenden Detailreichtum stimmig, ein von künstlichem Licht angestrahltes Moloch hypersteriler, ja durchsichtiger Architektur aus Glas, Beton und noch mehr Glas in einer einzigen fließenden, mechanischen Bewegung, bei der selbst die Zeitungen aus ihrer starren Gegenständlichkeit herauswachsen. Spielberg studiert diese artifizielle Welt, die wirkt, als ob sie das staubfreie Miniaturmodell eines Wissenschaftslabors sei, ausgiebig. Manches unterstreicht den Selbstzweck des CGI-Einsatzes (lebendige Pflanzen), manches bleibt inhaltlich vage (Slums und Drogen, der Ursprung jener sich gesteigerten Mordstatistik), anderes ist dagegen konzeptionell raffiniert erdacht (die Spinnen und Autos, der Puff als Visualisierungsschnittstelle). 

Da Spielberg aber entschieden mehr nüchtern dokumentiert – und zwar durchweg Spektakuläres –, als dass er dies freiwillig klug kommentiert, fällt ihm ausgerechnet zur unbegrenzten Metaphorik der Geschichte selten etwas Tiefschürfendes ein. So vermag er es beispielsweise kaum, das bereits aus einer anderen berühmten Science-Fiction-Geschichte von Philip K. Dick, nämlich "Blade Runner", omnipräsent bediente Augenmotiv von der offensichtlichen Plumpheit austauschbarer Identität für ein Mehr an Spannung zu entkoppeln, um es stattdessen in den Dienst eines moralisch rückschrittlichen Makrokosmos zu stellen, der mit den (trügerischen) Bruchstücken der Erinnerung tatsächlich glaubt, den Fortgang der Dinge zu verstehen, insbesondere zu… sehen. 

Resultat? "Minority Report" weicht jedwedem existenzphilosophischen Unterbau aus, der sich schwer in zwei Zeilen präzisieren lässt, wodurch der Film im Gegenzug lediglich ein den Genreregeln angelehntes, schräg bis zittrig fotografiertes Flucht-Erkenntnis-Szenario mit komödiantischen Einsprengseln nachstellt. Sackgassen, Codes (ein sich drehendes Karussell als cleverer Vergleich stetig voranschreitender Zeit) und pfiffige Wendungen (insbesondere in der Luftballonszene) reichen aber aus, das irgendwie bis zum Schluss interessant und atmosphärisch zu finden. Tom Cruise als traumatisierter Prä-Killerjäger beherrscht seinen staksigen Fußgang durch Noir-Schatten und halbverdunkelte Geheimecken ebenso souverän, wie Spielberg die Beeinflussung mit verschachtelten Rätseln, deren große subversive Sprengkraft, konträr zur Vorlage, aber ebenso ein großes Rätsel bleiben dürfte.

6 | 10