Jean-Luc Godard hält diese tote Gattung am Leben, packt sie am Schlafittchen, unterminiert gleichzeitig die Unterhaltungssentenzen des Kinos. Wenigstens er. Der assoziative Essayfilm gerann unter seiner Regie (oder: Nichtregie) zu einem explosiven Meinungsgemisch, zu einem zittrigen Gewusel aus Reflexionen und Störungen. Mit "Francofonia" kehrt der Essayfilm für eine überschaubare Anzahl an Zuschauern zurück in den Mittelpunkt des Interesses. Über Geschichts- wie Weltverschränkungen hinwegtosend, besucht Aleksandr Sokurov nach der Eremitage ("Russian Ark") nunmehr den Pariser Louvre, erzählt auf dessen Sockel die Geschichte zweier scheinbar ungleicher Männer während der Okkupationszeit der Nazis und komponiert eine Hymne an die Humanität weltkriegsüberdauernder Kunst. Wie in "Russian Ark", gleichwohl bodenständiger montiert, schwelgt der Filmemacher in kunsthistorischen Ausgestaltungen, die staunend dem Bildrand entrissen werden: in den Augen der Mona Lisa, in den Städtetotalen von Paris, in den Ornamenten metaphysischer Allgegenwärtigkeit. Wo "Russian Ark" romantische Vergangenheitssehnsüchte heraufbeschwor, so engagiert sich "Francofonia" für das Erhalten dieser Sehnsüchte.
Beiden aber ist eine entpolitisierte Fadheit eingeschrieben. Der Essayfilm hat sich verändert, entscheidend verändert. Sokurov selbst ist es, der das Publikum metareflexiv darauf hinweist, irgendwann einmal genug zu haben, genug von einer einlullenden Erzählstimme, genug vom traumwandlerischen Palaver, das Sokurov dem Bilderstrom zuführt. Die provokante, widernatürliche Kraft Godards erreicht "Francofonia" beispielsweise nie, dafür wagt er sich nirgends an ein destruktiveres Ausfransen übereinander gelagerter Tendenzen. Lieber ist "Francofonia" ganz der brave Schwiegersohn zu Besuch, der redet, wenn er reden muss, und plaudert, wenn er wieder unter seinesgleichen ist, verloren in seiner eigenen künstlerischen Emphase. Jene nachgedrehten und als Archivmaterial verfremdeten Grabenkämpfe zwischen Jacques Jaujard (Louis-Do de Lencquesaing), dem Leiter des Louvre, und Franz Wolff-Metternich (Benjamin Utzerath), dem Leiter des "Kunstschutzes", die schlussendlich eine ideologische Einigkeit herstellen sollten, weisen demgemäß wenig Erhellendes, wenig Handfestes, wenig Verschlagenes auf, tangieren durch ihre angestrengte, bleierne Ernsthaftigkeit beinah seifigen deutschen Bewältigungsmief, auf dem das zweifelhafte Prädikat "historisch bedeutsam" prangt.
Sokurovs gediegene Stoffsammlung erfreut sich nichtsdestotrotz an ihren manchmal exzentrisch wuchernden Erhebungen, sobald dieser Essay seine geschichtliche Geisteslinie verlässt. Wir sehen den Filmemacher als allegorisches Teilstück des großen Ganzen, wie er in seinem Arbeitszimmer wuselt, grübelt und mit einem Freund in Verbindung steht, der einer Containerüberfahrt beiwohnt. Angesichts des stürmischen Wetters bricht die Kommunikation ständig zusammen, ein Echo aus dem Vergangenen: die Rettung von (Kultur-)Gut bar aller Widerstände. "Zeit" hat nicht mehr länger eine chronologische, lineare Dimension, sondern eine "zerknitternde", eine "fügende", und auch im Zusammenspiel von Napoleon (Vincent Nemeth) und Marianne (Johanna Korthals Altes), die schlagartig "auferstehen" und den Wahlspruch der Französischen Republik enthusiastisch skandieren, wird deutlich, wie unumwunden Sokurov an den Gemeinsinn glaubt, Kunst zu retten und Kultur bewahren zu müssen. Aber vielleicht hätte "Francofonia" noch ein wenig mehr zu "Russian Ark" werden können, weil sich in den Überresten des visuell aufregenden, da schnittlosen Vorgängerfilms ein ebenso aufregend umrahmendes Genießen ansammelt, an den Häuserfassaden von Paris entlang zu schweben, ein Genießen im Dekor, in der völligen Zeitwillkür.
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