Sehen Sie es? Sehen Sie es dort? Gleich da drüben. Nein, andere
Seite. Nein, nein. Nein. Zurück, zurück. Weiter zurück. Anhalten. Stopp!
Schwenken Sie langsam Ihren Kopf nach links. Sehen Sie es? Direkt vor
Ihnen. Schnurgerade in der Ferne. Genau. Das Café. Das Café.
Treten Sie ein. Über die Schwelle, durch das Tor, mitten in den
Flüchtlingsstrom. Gewusel, Gedränge, Gezeter. Ich weiß. Bahnen Sie sich
Ihren Weg, vernachlässigen Sie die Anzüglichkeiten und Angebote, die
Ihnen gemacht werden, wenn Sie mit dem Finger angetippt werden. Passen
Sie auf Ihre Brieftasche auf! Hören Sie? Passen Sie auf! Folgen Sie mir
zu einem Tisch, hinterer Teil, hintere Ecke, hintere Sitznische.
Bestellen Sie sich Champagner, rauchen Sie. Meinetwegen. Warten Sie. Und
jetzt beobachten Sie. Etwas weiter weg von Ihnen, zwei Tische. Am
Flügel, der Tisch davor. Haben Sie ihn erfasst? Den Pianisten? Die Frau
am Tisch? Gut. Der Mann, der angelaufen kommt, den Pianisten zu
ermahnen? Merken Sie, wie der Mann ungehalten über die gespielte Melodie
debattiert? Und wie er nun zu jener Frau blickt, die Sie erkannt haben
müssten? Sehen Sie es? Den widersinnigen Blick des Mannes - erst
schockiert, dann sakral? Erst bestürzt, dann beglückt. Erst getroffen,
dann geheiligt? Erst müde, dann wach. Sehen Sie ihn? Schauen Sie ihm in
die Augen, Kleiner. So sah Ihr Blick aus, als Sie "Casablanca" sahen.
»You must remember this / A kiss is still a kiss / A sigh is just a sigh / The fundamental things apply / As time goes by.«
Casablanca
hatte es am Anfang schwer bei mir, er hatte keinen, verzeihen Sie den
Witz, Passierschein. Den musste er sich erkämpfen. Selbstverständlich:
schwer in Anführungszeichen. Schwerer als gedacht. Er war eine Geburt,
bei der gepresst werden musste. Ich habe seine Liebe nicht sofort
gespürt und mich nicht für seinen manipulativen Zaubertrick
interessiert, der ihn umgreift, sondern für dessen theoretische
Konstruktion, damit Magie entsteht. Ich habe mich für das Denken
interessiert, nicht für das Fühlen. Casablanca ist, mir kommt intuitiv
der Gedanke, während ich mein zweites Glas Champagner bestelle und diese
Notizen an einem von Klavierprise melodisch vernebelten Ort
niederschreibe (Sie wissen, wo), dass Rick (Humphrey Bogart)
Casablanca ist und Casablanca Rick. Ein mit graziler Präzision
choreografierter Maschinenmensch, der mit engelsgleichen Bewegungen die
Lichter und Schatten vertrauter Behaglichkeit abschreitet, ein Zyniker
gar: abgebrüht, abwehrend, aber auch auffangend. Unter seiner Schale
kerniger Sachlichkeit, die auf das da unten lugt, hat sich ein
empfindsamer Wohltäter eingenistet, der die da neben ihm registriert. So
erkläre ich mir die Methode Casablancas, ein Film, dessen lodernde
Liebe zwar den Krieg, ja die Geschichte und Zeit überwindet, aber
distanziert, kühl beginnt - und direkt, kochend endet. Oh, Rick.
»We'll always have Paris. We didn't have, we, we lost it until you came to Casablanca. We got it back last night.«
Sind
wir dabei, frage ich mich, nicht alle Wartende? Bei Rick? In
Casablanca? Warten an einem eckigen Ort (auf einen momentan dritten
Drink in einem runden Glas), warten vor einem eckigen Bildschirm auf
einen eckig umrandeten Film, bei dem wir bereit wären, ihn eines Tages
als Lieblingsfilm an unserer Nabelschnur mitzutragen, ihn als Teil
unserer persönlichen Identität anzunehmen und die Norm seiner Schönheit
niemals mit dem Flugzeug entschwinden zu lassen? Ich glaube. Ja. Das
schillernde Café, das Rick verwaltet, um sich jeder politischen
Schwierigkeit zu entledigen, wird von einer poetisch-parfümierten
Glanzschicht überlagert, die gleichermaßen sphärisch wie mystisch
Eintritt gewährt - nämlich dahin Eintritt gewährt, wo Herzen brechen und
erneuern, Hoffnungen aufleben und schrumpfen, Träume gedeihen und
platzen, Schiffbrüchige stranden und weggespült werden. Ricks Café, ein
Mikrokosmos zerstreuten, brütenden Verzögerns, steht still, schlummert,
schaukelt und säuft und pafft die Angst vor der Agonie außerhalb der
Musik weg. So ergeht es uns im Kinosaal, wenn wir lieben und sich uns
die Liebe eines neuen Lieblingsfilms ergießt, denn Lieblingsfilme
pachten die Liebe, die darauf wartet, ergreift zu werden - genauso wie
Rick die Liebe zu Ilsa (Ingrid Bergman) eingefroren hat, die nach und nach auftaut, schmilzt und wiederauflebt.
»Here's looking at you kid.«
Mein
drittes Glas steht mittlerweile vor mir, ausgetrunken. Alles, was ich
an Geld übrig habe, versiegt. Die Fortsetzung dieses Berichts erscheint
mir zusehends komplizierter, wohingegen sich draußen das Artilleriefeuer
unüberhörbarer entlädt. Liebe zu formulieren ist ungleich schwerer als
sie zu leben. Sie wissen schon: Rick und Ilsa. Sie wissen. Vielleicht
erzähle ich Ihnen zum Abschluss von den beiden. Casablanca wies
chaotische Produktionsbedingungen auf, ein logistisches Durcheinander
eines Films, der ironischerweise als einer von vielen gehandelt und von
Tag zu Tag gedacht wurde. Heute, sein Verfallsdatum wich einer ewigen
Unauslöschbarkeit, tragen Grobian Rick und Engel Ilsa "genug Chaos in sich, um einen tanzenden Stern zu gebären."
Die Botschaft, ihr bohrender Appell an uns, transzendierte
Generationen: Nicht die beinah kosmische Verbundenheit einzelner Belange
zählt, sondern das unablässige Streben, an Idealen festzuhalten und
damit die Belange vieler im Blick zu halten. Ehe Bogie, ja, das Flugzeug
entschwinden lässt und, ja, auf die Lichter zugeht, auf jene mythische
Bühne zurück, wo er zeit seines Lebens nie wieder hinabstieg. Casablanca
und ich bedeutet mehr als den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Wir sind zwischenzeitlich bei der Verlobung angelangt. Und meine letzten
Münzen, die gebe ich Sam zwei Tische weiter.