Dienstag, 29. September 2015

Aktion Lieblingsfilm: Spiel' ihn noch einmal, Sam


Sehen Sie es? Sehen Sie es dort? Gleich da drüben. Nein, andere Seite. Nein, nein. Nein. Zurück, zurück. Weiter zurück. Anhalten. Stopp! Schwenken Sie langsam Ihren Kopf nach links. Sehen Sie es? Direkt vor Ihnen. Schnurgerade in der Ferne. Genau. Das Café. Das Café. Treten Sie ein. Über die Schwelle, durch das Tor, mitten in den Flüchtlingsstrom. Gewusel, Gedränge, Gezeter. Ich weiß. Bahnen Sie sich Ihren Weg, vernachlässigen Sie die Anzüglichkeiten und Angebote, die Ihnen gemacht werden, wenn Sie mit dem Finger angetippt werden. Passen Sie auf Ihre Brieftasche auf! Hören Sie? Passen Sie auf! Folgen Sie mir zu einem Tisch, hinterer Teil, hintere Ecke, hintere Sitznische. Bestellen Sie sich Champagner, rauchen Sie. Meinetwegen. Warten Sie. Und jetzt beobachten Sie. Etwas weiter weg von Ihnen, zwei Tische. Am Flügel, der Tisch davor. Haben Sie ihn erfasst? Den Pianisten? Die Frau am Tisch? Gut. Der Mann, der angelaufen kommt, den Pianisten zu ermahnen? Merken Sie, wie der Mann ungehalten über die gespielte Melodie debattiert? Und wie er nun zu jener Frau blickt, die Sie erkannt haben müssten? Sehen Sie es? Den widersinnigen Blick des Mannes - erst schockiert, dann sakral? Erst bestürzt, dann beglückt. Erst getroffen, dann geheiligt? Erst müde, dann wach. Sehen Sie ihn? Schauen Sie ihm in die Augen, Kleiner. So sah Ihr Blick aus, als Sie "Casablanca" sahen.
»You must remember this / A kiss is still a kiss / A sigh is just a sigh / The fundamental things apply / As time goes by.«
Casablanca hatte es am Anfang schwer bei mir, er hatte keinen, verzeihen Sie den Witz, Passierschein. Den musste er sich erkämpfen. Selbstverständlich: schwer in Anführungszeichen. Schwerer als gedacht. Er war eine Geburt, bei der gepresst werden musste. Ich habe seine Liebe nicht sofort gespürt und mich nicht für seinen manipulativen Zaubertrick interessiert, der ihn umgreift, sondern für dessen theoretische Konstruktion, damit Magie entsteht. Ich habe mich für das Denken interessiert, nicht für das Fühlen. Casablanca ist, mir kommt intuitiv der Gedanke, während ich mein zweites Glas Champagner bestelle und diese Notizen an einem von Klavierprise melodisch vernebelten Ort niederschreibe (Sie wissen, wo), dass Rick (Humphrey Bogart) Casablanca ist und Casablanca Rick. Ein mit graziler Präzision choreografierter Maschinenmensch, der mit engelsgleichen Bewegungen die Lichter und Schatten vertrauter Behaglichkeit abschreitet, ein Zyniker gar: abgebrüht, abwehrend, aber auch auffangend. Unter seiner Schale kerniger Sachlichkeit, die auf das da unten lugt, hat sich ein empfindsamer Wohltäter eingenistet, der die da neben ihm registriert. So erkläre ich mir die Methode Casablancas, ein Film, dessen lodernde Liebe zwar den Krieg, ja die Geschichte und Zeit überwindet, aber distanziert, kühl beginnt - und direkt, kochend endet. Oh, Rick.
»We'll always have Paris. We didn't have, we, we lost it until you came to Casablanca. We got it back last night.«
Sind wir dabei, frage ich mich, nicht alle Wartende? Bei Rick? In Casablanca? Warten an einem eckigen Ort (auf einen momentan dritten Drink in einem runden Glas), warten vor einem eckigen Bildschirm auf einen eckig umrandeten Film, bei dem wir bereit wären, ihn eines Tages als Lieblingsfilm an unserer Nabelschnur mitzutragen, ihn als Teil unserer persönlichen Identität anzunehmen und die Norm seiner Schönheit niemals mit dem Flugzeug entschwinden zu lassen? Ich glaube. Ja. Das schillernde Café, das Rick verwaltet, um sich jeder politischen Schwierigkeit zu entledigen, wird von einer poetisch-parfümierten Glanzschicht überlagert, die gleichermaßen sphärisch wie mystisch Eintritt gewährt - nämlich dahin Eintritt gewährt, wo Herzen brechen und erneuern, Hoffnungen aufleben und schrumpfen, Träume gedeihen und platzen, Schiffbrüchige stranden und weggespült werden. Ricks Café, ein Mikrokosmos zerstreuten, brütenden Verzögerns, steht still, schlummert, schaukelt und säuft und pafft die Angst vor der Agonie außerhalb der Musik weg. So ergeht es uns im Kinosaal, wenn wir lieben und sich uns die Liebe eines neuen Lieblingsfilms ergießt, denn Lieblingsfilme pachten die Liebe, die darauf wartet, ergreift zu werden - genauso wie Rick die Liebe zu Ilsa (Ingrid Bergman) eingefroren hat, die nach und nach auftaut, schmilzt und wiederauflebt.
»Here's looking at you kid.«
Mein drittes Glas steht mittlerweile vor mir, ausgetrunken. Alles, was ich an Geld übrig habe, versiegt. Die Fortsetzung dieses Berichts erscheint mir zusehends komplizierter, wohingegen sich draußen das Artilleriefeuer unüberhörbarer entlädt. Liebe zu formulieren ist ungleich schwerer als sie zu leben. Sie wissen schon: Rick und Ilsa. Sie wissen. Vielleicht erzähle ich Ihnen zum Abschluss von den beiden. Casablanca wies chaotische Produktionsbedingungen auf, ein logistisches Durcheinander eines Films, der ironischerweise als einer von vielen gehandelt und von Tag zu Tag gedacht wurde. Heute, sein Verfallsdatum wich einer ewigen Unauslöschbarkeit, tragen Grobian Rick und Engel Ilsa "genug Chaos in sich, um einen tanzenden Stern zu gebären." Die Botschaft, ihr bohrender Appell an uns, transzendierte Generationen: Nicht die beinah kosmische Verbundenheit einzelner Belange zählt, sondern das unablässige Streben, an Idealen festzuhalten und damit die Belange vieler im Blick zu halten. Ehe Bogie, ja, das Flugzeug entschwinden lässt und, ja, auf die Lichter zugeht, auf jene mythische Bühne zurück, wo er zeit seines Lebens nie wieder hinabstieg. Casablanca und ich bedeutet mehr als den Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Wir sind zwischenzeitlich bei der Verlobung angelangt. Und meine letzten Münzen, die gebe ich Sam zwei Tische weiter. 

Spiel' ihn noch einmal, Sam. 


unbearbeiteter Originalartikel