#7
»INLAND EMPIRE«
(F, PL, USA 2006)
Der Emanzipationsprozess einer Frau, sich von ihrem Ehemann loszusagen,
gerät zum narrativen Kriegsgrund in Lynchs erstem und letztem
Kriegsfilm, einer stürmischen Romanze und einem überschwänglichen
Schaffensfilm, einem irrsinnigen Requiem der Weltenkollision und einer
temperamentvollen Hymne an die Spannkräfte des transzendenten Seins im
weiblichen Körper, egomanisch, fragmentarisch und gleichermaßen
ursprünglich wie unergründlich. So wie die Verben in der Filmgrammatik
der Kausalität fehlen, so packt der Film die Hauptgedanken seines
Schöpfers, des Eigenbrötlers und des Melancholikers, um sie ein letztes
Mal mit glühender Lust dem Stinkefinger gegen das Dogma zu umwickeln,
verweichlichte Zuschauer an die Hand nehmen zu müssen. Mit "Inland
Empire" wird man Angst haben, noch verstörender wird es aber sein, wenn
man ihn tatsächlich überlebt hat – den Krieg.
#6
»LOST HIGHWAY«
(USA, F 1997)
Verzwickte Möbiusschleifen, falsche Autoritäten, sexuelle Niederlagen,
männliche Versagensängste: "Lost Highway" wickelt einen dämonischen
Eheabgrund in fleischiges Interieur, in eine Wohnung, die – wie in "Blue
Velvet" – einer Gebärmutter ähnelt, die verschlingt und ausspuckt,
anzieht und abstößt in einer sinnbetäubenden Rammstein-Hölle, die von
Schnappschüssen und Stöhnlauten begrenzt wird. Lynch verortet Goethes
"Faust" postmodern, umrandet Figuren zu verloren-erstarrten Gemälden
ihrer selbst und zwingt zum Blick in die Vergangenheit unschuldiger
Planschbecken und trauernder Gefühle, die nie wieder einholbar scheinen.
"Lost Highway" stimuliert im Innersten, weil die Vergänglichkeit der
Schönheit irrealer Lust inmitten des Deliriums in Verdammnis lediglich
in Zeitlupe begreifbar ist. Patricia Arquette in High Heels dürfte bei
aller soziopathischen Komik, die Lynch lakonisch streift, ein
Donnerwetter verursachen, und zwar ein stöhnendes.
#5
»TWIN PEAKS - DER FILM«
»TWIN PEAKS: FIRE WALK WITH ME«
(USA, F 1992)
Eine Rückkehr in die unvergleichlichen Wälder. Ein blauer Dunstschleier
liegt (wieder) über dem Paradies der Hölle. Ein Fernseher zerberstet.
Das ist Film. Voller Chiffrierung und kommunikativer Kollision. Bevor
der Finger genauer untersucht wird – und einem ein Buchstabe einfällt.
"Twin Peaks" empfahl sich als spirituelle Phantasmagorie
seifenopernhafter Beziehungsüberschneidungen von neurotischen Spinnern,
gefräßigen Geschäftemachern und symbolischen Geistern, atmosphärisch
führte sie stets ein organisches Eigenleben und ergründete mit Hilfe
eines suggestiv-grinsenden Kameraauges eine Weltendämmerung, die in den
heiligen vier Wänden einzustürzen drohte. "Twin Peaks – Der Film"
hingegen ist die reichlich fremdartige(re) Mysterien aufwerfende
Vorgeschichte der berühmtesten Leiche der Fernsehgeschichte, ein ebenso
transzendent-existenzialistisches wie schmerzlich-ermattendes Spuk- und
Missbrauchsmanifest, das um das Leiden der elterlichen Entfremdung
rotiert, metaphorisch dem Rot des wahnhaften Sinnestaumels zuarbeitet
und manche mustergültige Experimentalsequenz vertiefter
Gedankenverlorenheit dichtet. Während der Donna-Ersatz (Moira Kelly)
danebengeht und sich Lynch, vermehrt im letzten Drittel, in hochgradig
entmystifizierende, sensationsplakative Bilder flüchtet, schickt er
Laura Palmer (Sheryl Lee), knüpfend an die detaildurchtriebene Vorarbeit
der Serie, von Traum zu Traum, an dessen Ende ein Rausch wartet, das
Loslösen, das Versinken, das Sterben. Die Versöhnung an uns: Cooper
sitzt in einem gleißenden Licht verheißungsvoller Unsterblichkeit, seine
Hand auf Lauras Schulter – und er lächelt freundlich, sie lächelt mit,
friedlich, weiß.
#4
»THE STRAIGHT STORY«
(USA 1999)
#3
»MULHOLLAND DRIVE«
(USA, F 2001)
Die Straße der Finsternis wird von dem Begehren gesäumt, das
Provinzielle gegen das Üppige auszutauschen. "Mulholland Drive" ist die
Fantasie der traurigen Engel in der Abstellkammer des Himmels, ein
Hollywood der desillusionierten Fratzen und lieblosen Küsse offener
Augen. In seiner Hommage und Fülle selbstreferentieller Archetypen
bewegt sich Lynch kulturübergreifend in einem deterministischen
Traum-Essay über die bloße Ideologie einer stichprobenartigen
Kino-Sezierung hinweg, in dem die Ebenen des Wach- und Tagtraumzustandes
durch das Einschlafen und Wecken in zwei formal voneinander abgegrenzte
Hälften unterbewusst miteinander verknüpft werden. Indem Lynch die
Haltestellen der Chronologie überfährt, sortiert er die Stimmungen der
Farben und Objekte zur Illusion über die Logik. Frauen und Identitäten
und Scheinidentitäten und Wunschidentitäten. Ein Traum der Wärme in der
Dunkelheit.
#2
»BLUE VELVET«
(USA 1986)
»BLUE VELVET«
(USA 1986)
David Lynch als Konstrukteur seelischer Unterwerfung. Isabella
Rossellini und Dennis Hopper spielen leidenschaftlich erregt den Abgrund
unter der blütenreinen Normalität, das Fressen im Vogelschnabel, den
Vogelschnabel selbst, obwohl sie nicht wissen, wohin sie gehen und
fühlen sollen, ebenso wie jene ungezügelte Libido als abgestoßenes
Partikel der Unberührtheit in einer fremden, seltsamen Welt voller
Rätsel herhalten muss. Mit Einbruch der Nacht gebärt Lynch Ungeheuer,
die schrecklichsten, die man sich vorstellen kann. "Blue Velvet" ist
metaphorisch unterfütterter Noir, Erotik, Sinnlichkeit, Folter, Traum,
Alptraum, vor allem Alptraum, während die Grenzen der Qual und Würde am
Hölleneingang der Wohnungshaustür ineinander zerfließen. Lynchs
verträumt-versunkene Schmerzballade gerinnt zur Träne in einer
verletzlichen Tragödie in Blau – unweit des alltäglichen Weltuntergangs
im Herzen des Menschen.
#1
»DER ELEFANTENMENSCH«
»THE ELEPHANT MAN«
(GB 1980)
(GB 1980)
David Lynch auf den Spuren des Frühwerks von David Lean, ein
viktorianisches Melodram in industrieller Kälte zu inszenieren. Die
funkenschlagende Elektrizität und das Flackern des Lichtes sowie die
befremdliche Mutation der Körperlichkeit als gedankliche Fortsetzung des
"Eraserhead"-Monsters umgarnen den Lynch-Katalog avantgardistischer
Scheußlichkeiten, denen der Regisseur zunächst mit dokumentarischer
Objektivität begegnet. Je kraftraubender der Elefantenmensch in einer
ungesitteten Sensationsgesellschaft die Liebe sucht, desto
entschlossener wechselt Lynch die Seite der Subjektivität, um
hochemotional eine an den Geist und die Würde appellierende
Verletzlichkeit herauszufiltern, die jeden starken Mann und jede Frau zu
Tränen auf den Boden zwingt. So herzlich wie sanft ist sie, die
Mahnung, Feindbilder und Stereotypen nicht aufgrund von Äußerlichkeiten
zu generieren. Der Elefantenmensch steckt in uns allen.