Freitag, 31. August 2012

Die imposanten 7: Lynch-Spielfilme

 #7 
»INLAND EMPIRE«   
(F, PL, USA 2006)


Der Emanzipationsprozess einer Frau, sich von ihrem Ehemann loszusagen, gerät zum narrativen Kriegsgrund in Lynchs erstem und letztem Kriegsfilm, einer stürmischen Romanze und einem überschwänglichen Schaffensfilm, einem irrsinnigen Requiem der Weltenkollision und einer temperamentvollen Hymne an die Spannkräfte des transzendenten Seins im weiblichen Körper, egomanisch, fragmentarisch und gleichermaßen ursprünglich wie unergründlich. So wie die Verben in der Filmgrammatik der Kausalität fehlen, so packt der Film die Hauptgedanken seines Schöpfers, des Eigenbrötlers und des Melancholikers, um sie ein letztes Mal mit glühender Lust dem Stinkefinger gegen das Dogma zu umwickeln, verweichlichte Zuschauer an die Hand nehmen zu müssen. Mit "Inland Empire" wird man Angst haben, noch verstörender wird es aber sein, wenn man ihn tatsächlich überlebt hat – den Krieg. 

#6 
»LOST HIGHWAY«
(USA, F 1997)


Verzwickte Möbiusschleifen, falsche Autoritäten, sexuelle Niederlagen, männliche Versagensängste: "Lost Highway" wickelt einen dämonischen Eheabgrund in fleischiges Interieur, in eine Wohnung, die – wie in "Blue Velvet" – einer Gebärmutter ähnelt, die verschlingt und ausspuckt, anzieht und abstößt in einer sinnbetäubenden Rammstein-Hölle, die von Schnappschüssen und Stöhnlauten begrenzt wird. Lynch verortet Goethes "Faust" postmodern, umrandet Figuren zu verloren-erstarrten Gemälden ihrer selbst und zwingt zum Blick in die Vergangenheit unschuldiger Planschbecken und trauernder Gefühle, die nie wieder einholbar scheinen. "Lost Highway" stimuliert im Innersten, weil die Vergänglichkeit der Schönheit irrealer Lust inmitten des Deliriums in Verdammnis lediglich in Zeitlupe begreifbar ist. Patricia Arquette in High Heels dürfte bei aller soziopathischen Komik, die Lynch lakonisch streift, ein Donnerwetter verursachen, und zwar ein stöhnendes.   

  #5
     »TWIN PEAKS - DER FILM«    
»TWIN PEAKS: FIRE WALK WITH ME«
(USA, F 1992)


Eine Rückkehr in die unvergleichlichen Wälder. Ein blauer Dunstschleier liegt (wieder) über dem Paradies der Hölle. Ein Fernseher zerberstet. Das ist Film. Voller Chiffrierung und kommunikativer Kollision. Bevor der Finger genauer untersucht wird – und einem ein Buchstabe einfällt. "Twin Peaks" empfahl sich als spirituelle Phantasmagorie seifenopernhafter Beziehungsüberschneidungen von neurotischen Spinnern, gefräßigen Geschäftemachern und symbolischen Geistern, atmosphärisch führte sie stets ein organisches Eigenleben und ergründete mit Hilfe eines suggestiv-grinsenden Kameraauges eine Weltendämmerung, die in den heiligen vier Wänden einzustürzen drohte. "Twin Peaks – Der Film" hingegen ist die reichlich fremdartige(re) Mysterien aufwerfende Vorgeschichte der berühmtesten Leiche der Fernsehgeschichte, ein ebenso transzendent-existenzialistisches wie schmerzlich-ermattendes Spuk- und Missbrauchsmanifest, das um das Leiden der elterlichen Entfremdung rotiert, metaphorisch dem Rot des wahnhaften Sinnestaumels zuarbeitet und manche mustergültige Experimentalsequenz vertiefter Gedankenverlorenheit dichtet. Während der Donna-Ersatz (Moira Kelly) danebengeht und sich Lynch, vermehrt im letzten Drittel, in hochgradig entmystifizierende, sensationsplakative Bilder flüchtet, schickt er Laura Palmer (Sheryl Lee), knüpfend an die detaildurchtriebene Vorarbeit der Serie, von Traum zu Traum, an dessen Ende ein Rausch wartet, das Loslösen, das Versinken, das Sterben. Die Versöhnung an uns: Cooper sitzt in einem gleißenden Licht verheißungsvoller Unsterblichkeit, seine Hand auf Lauras Schulter – und er lächelt freundlich, sie lächelt mit, friedlich, weiß.

#4 
 »THE STRAIGHT STORY«   
 (USA 1999)
 

 #3  
  »MULHOLLAND DRIVE«  
(USA, F 2001)


Die Straße der Finsternis wird von dem Begehren gesäumt, das Provinzielle gegen das Üppige auszutauschen. "Mulholland Drive" ist die Fantasie der traurigen Engel in der Abstellkammer des Himmels, ein Hollywood der desillusionierten Fratzen und lieblosen Küsse offener Augen. In seiner Hommage und Fülle selbstreferentieller Archetypen bewegt sich Lynch kulturübergreifend in einem deterministischen Traum-Essay über die bloße Ideologie einer stichprobenartigen Kino-Sezierung hinweg, in dem die Ebenen des Wach- und Tagtraumzustandes durch das Einschlafen und Wecken in zwei formal voneinander abgegrenzte Hälften unterbewusst miteinander verknüpft werden. Indem Lynch die Haltestellen der Chronologie überfährt, sortiert er die Stimmungen der Farben und Objekte zur Illusion über die Logik. Frauen und Identitäten und Scheinidentitäten und Wunschidentitäten. Ein Traum der Wärme in der Dunkelheit.

   #2   
  »BLUE VELVET«      
(USA 1986)


David Lynch als Konstrukteur seelischer Unterwerfung. Isabella Rossellini und Dennis Hopper spielen leidenschaftlich erregt den Abgrund unter der blütenreinen Normalität, das Fressen im Vogelschnabel, den Vogelschnabel selbst, obwohl sie nicht wissen, wohin sie gehen und fühlen sollen, ebenso wie jene ungezügelte Libido als abgestoßenes Partikel der Unberührtheit in einer fremden, seltsamen Welt voller Rätsel herhalten muss. Mit Einbruch der Nacht gebärt Lynch Ungeheuer, die schrecklichsten, die man sich vorstellen kann. "Blue Velvet" ist metaphorisch unterfütterter Noir, Erotik, Sinnlichkeit, Folter, Traum, Alptraum, vor allem Alptraum, während die Grenzen der Qual und Würde am Hölleneingang der Wohnungshaustür ineinander zerfließen. Lynchs verträumt-versunkene Schmerzballade gerinnt zur Träne in einer verletzlichen Tragödie in Blau unweit des alltäglichen Weltuntergangs im Herzen des Menschen.

#1  
  »DER ELEFANTENMENSCH« 
 »THE ELEPHANT MAN«
(GB 1980)


David Lynch auf den Spuren des Frühwerks von David Lean, ein viktorianisches Melodram in industrieller Kälte zu inszenieren. Die funkenschlagende Elektrizität und das Flackern des Lichtes sowie die befremdliche Mutation der Körperlichkeit als gedankliche Fortsetzung des "Eraserhead"-Monsters umgarnen den Lynch-Katalog avantgardistischer Scheußlichkeiten, denen der Regisseur zunächst mit dokumentarischer Objektivität begegnet. Je kraftraubender der Elefantenmensch in einer ungesitteten Sensationsgesellschaft die Liebe sucht, desto entschlossener wechselt Lynch die Seite der Subjektivität, um hochemotional eine an den Geist und die Würde appellierende Verletzlichkeit herauszufiltern, die jeden starken Mann und jede Frau zu Tränen auf den Boden zwingt. So herzlich wie sanft ist sie, die Mahnung, Feindbilder und Stereotypen nicht aufgrund von Äußerlichkeiten zu generieren. Der Elefantenmensch steckt in uns allen.