Dienstag, 7. Juli 2009

Literatur: "In einer kleinen Stadt" / "Needful Things" (Stephen King, 1991)



Story:

Castle Rock, Maine: Eines Tages eröffnet hier ein Fremder einen neuen Laden mit dem seltsamen Namen "Needful Things", in dem jeder bekommen kann, wovon er schon lange geträumt hat. Doch alles hat seinen Preis - und Leland Gaunt, der Besitzer, kennt ihn, denn er kennt die verborgensten Sehnsüchte und Schwächen jedes Einzelnen. Der Alptraum beginnt...

Kritik:

In vielfacher Hinsicht tangiert "In einer kleinen Stadt" Stephen Kings Affinität zu besonderen narrativen Kniffen. King verlegt einerseits den Kosmos des Grauens nach Castle Rock, eine Kleinstadt in seinem Heimatstaat Maine, andererseits manifestiert sich in diesem Roman einmal mehr ein engmaschiges, ein komplexes Netz aus Beziehungen und Abhängigkeiten unter den Bewohnern, die plötzlich einer fremdartigen Bedrohung ausgesetzt sind. Einmal mehr scheint es unter der scheinbar harmlosen Fassade einer scheinbar harmlosen Stadt zu bröckeln, die – wenn es schließlich zur Eskalation etwaiger Konflikte kommt – nach und nach ihrem Untergang ein Stück näher rückt. Doch "In einer kleinen Stadt" behandelt nicht nur eines von Stephen Kings klassischen Lieblingsthemen, vielmehr thematisiert "In einer kleinen Stadt" Rachsucht und die Folgen von Habgier. Der Roman verdeutlicht, dass es durchaus Menschen gibt, die für ihre sehnlichsten Wünsche alles tun würden, damit sich diese erfüllen, dass es aber auch Menschen gibt, die sich die Wünsche von anderen zu Nutze machen und sie somit zu ihren Werkzeugen erziehen, nur um sich ihre eigenen materiellen Träume zu verwirklichen. Hinzu kommt, dass King in seinem Werk "In einer kleinen Stadt" einer Frage nachgeht, die nach Beendigung der Lektüre beantwortet werden kann: Wie kann man eine friedliche menschliche Gemeinschaft zerstören? Schaffe Misstrauen und Neid. Hier, in Castle Rock, lässt der Kultautor seine zahlreichen Akteure sich gegeneinander ausspielen, ohne zu ahnen, dass die Wurzel allen Übels unter ihnen weilt.

Zu Beginn entwickelt sich dieses groteske Chaos in gemächlichem Tempo, im gemütlichen Plauderton, der Horror tritt allenfalls nur subtil an die Oberfläche. King stellt behutsam seine Figuren vor, knüpft Verbindungen unter diesen, wirft lose Fäden auf. Er skizziert ohne etwas zu überstürzen eine Kleinstadtidylle, die von so einigen interessanten Protagonisten getragen wird. Da gibt es einen Sheriff namens Alan Pangborn, zwar nicht gerade ein Held – unter anderem durch seine Vergangenheit und den schrecklichen Tod seiner Familie -, aber doch auf seine Weise sympathisch. Da gibt es seine Freundin Polly Chalmers, die an schwerer Arthritis leidet, Danforth Keeton, welcher sich dem Wohle der Stadt verschrieben hat und schon bald dem Glücksspiel verfällt, außerdem sorgt der Religionskonflikt zwischen den Katholiken und Protestanten, ebenso wie der Konflikt innerhalb der Polizei und Keeton für zusätzliche Spannung. Mit Brian Rusk beherbergt "In einer kleinen Stadt" außerdem einen Charakter, der nicht nur die Sache mit dem neuen Laden und der damit verbundenen Apokalypse durch seine kindliche Neugierde ins Rollen bringt, nein, durch seine typisch jugendlichen Gedanken/Probleme wie das Verliebtsein in eine wesentlich ältere Frau, seine Lehrerin, ist er vor allem einer der am menschlichsten gezeichneten Akteure. Und über allen steht Lelaund Gaunt. Leland Gaunt, der die verborgensten Sehnsüchte jedes einzelnen ausnutzt, der jedem "nützliche" Dinge anbietet, die bei den Käufern schnell zum jeweiligen Objekt der Begierde avancieren. Die Gier treibt jeden dazu, ohne Skrupel dem anderen einen kleinen Streich zu spielen, der sich bei näherem Hinschauen allerdings als großer Schaden an des Bewohners empfindlichster Stelle entpuppt. So werden Gerüchte in die Welt gesetzt, Intrigen kristallisieren sich heraus, alles scheint zu eskalieren. Gaunt ist in Wirklichkeit nicht der auf Anhieb nette, charmante, besonnene und leicht melancholische alte Mann, sondern der Teufel in Person.

Was dem Roman zugutekommt, ist, dass Stephen King mit dieser auf epischen 850 Seiten ausgebreiteten Handlung den Geist der Wirklichkeit trifft. Wenn die Bevölkerung mit zunehmendem Maße ausrastet, wenn viele kleine Bosheiten Einzug in Castle Rock die Bühne des Geschehens betreten – quasi der Ausbruch der vorher nur latent vorherrschenden Gewalt - ist das zutiefst fühlbar und nachvollziehbar geschrieben. Überhaupt ist Kings metaphorische, bisweilen poetische und mit diversen philosophischen Denkanstößen durchzogene Prosa-Sprache und Figurencharakteristik beeindruckend. Er erweckt sowohl die Stadt als auch seine Figuren plastisch und greifbar zum Leben, schildert aber auch konsequent verschiedenste Gräueltaten mit dem nötigen Maß an Härte (zu erwähnen sei hier beispielsweise der Kampf zwischen Nettie und Wilma oder der tragische, jedoch eindringliche Selbstmord Brian Rusks). Da macht der Autor bekannterweise keine Gefangenen, wobei der Meisterwerk-Status eines Buches damit noch lange nicht gewonnen ist. Denn abgesehen von einem anfangs spannenden und fesselnden Drama, das durchweg mit Hass und Gewalt sowie verborgenen Streitereien gefüllt ist und fast einer Charakterstudie, einem zynischen Blick auf die ambivalente Nachbarwelt gleicht, verfällt der Roman nach ein paar hundert Seiten zur Routine. King kann das Schema, in dem immer wieder neue Menschen in den Laden hineingehen, immer wieder was kaufen, immer wieder Menschen aufhetzen, nicht durchbrechen, wodurch das Werk manchmal sehr zähflüssig daherkommt. Das Strickmuster bleibt stets in seiner Form bestehen, einzig die hübschen Anekdoten, die Streiche, variieren. Auch stellt sich Leland Gaunt mit übergroßen Händen, rauchendem Kopf und verschiedenfarbig funkelnden Augen letzten Endes als reichlich klischeehafter Antagonist heraus, der sich am Schluss mit dem wirklichen Helden der Story, Alan Pangborn, konfrontiert sieht, dieses Gefecht, dieses Finale, dem Roman jedoch jedwede Plausibilität und Glaubwürdigkeit nimmt, in dem King "In einer kleinen Stadt" mit Donner, Gewitter, kolossalen Regenschauern und zerfetzenden Explosionen furchtbar apokalyptisch, konventionell (das Böse wird abermals mit dem Glauben an das Wahre und Gute besiegt) und ja, unfreiwillig komisch (Gaunt entwischt mit einem Auto, das sich plötzlich zur Kutsche transformiert) enden lässt. Da helfen dann auch keine hübschen Parallelmontagen mehr, die im schachtelartig aufgebauten letzten Akt vermehrt zum Einsatz kommen.

Fazit:

Was übrig bleibt, ist ein Buch, das weder mit leiser Kritik an der Konsumgesellschaft (Thema der menschlichen Anständigkeit, Thema der menschlichen Abhängigkeit, Thema der verkaufenen Seele), spart, noch mit einigen Querverweisen zu Kings anderen Werken wie "Cujo", noch mit perfekt durchkomponierter Psychologie. Stephen King zeigt angesichts der Probleme des abgründigen Alltags Castle Rocks in Sachen Globalisierung und Ausarbeitung auf, das "In einer kleinen Stadt" weit über einen handelsüblichen Thriller hinausgeht. Ob sich das Motto des vielschichtigen Romans nun in "das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, sind Wunschträume, die erfüllt werden", "für das, was du dir nimmst, wirst du bezahlen müssen" oder in der Frage "Zu was sind Menschen fähig – und zu welchem Zweck?" äußert, ist dabei jedem selbst überlassen. Aufgrund der unzumutbaren Überlänge, der gepflegten Kreativitätslosigkeit im Mittelteil und dem zu tiefen Hineingreifen in die Fantasy-Trickkiste im Schlussteil, ebenso wie die Tatsache, dass der Überblick bei all der redundanten Anzahl an Charakteren schnell im Nichts verschwindet, ein solides Buch, aber kein überragendes.

6/10