Mittwoch, 19. November 2008

Literatur: Roter Drache (Thomas Harris), 1981



Story:

Ein psychopathischer Killer verbreitet Angst und Schrecken in Florida. Er hat schon zehn Menschen – je zwei Familien - umgebracht und die Mordserie reißt nicht ab. Der Täter, ein von Wahnvorstellungen besessener, missgestalteter Mann, identifiziert sich mit einem geheimnisvollen Motiv der Kunstgeschichte - mit William Blakes mystischem rotem Drachen und tötet vorzugsweise bei Vollmond. Wer wäre besser geeignet, ein Psychogramm des Gesuchten anzufertigen, als der Psychiater und kanibalische Massenmörder, den das FBI drei Jahre zuvor fassen konnte: Dr. Hannibal Lecter. Die Jagd nach dem Täter kann also beginnen, denn bis zur nächsten Vollmondnacht ist es nicht mehr weit...

Kritik:

"Roter Drache" markiert den Anfang von Thomas Harris´ ursprünglich vorgesehener Trilogie rund um den kannibalistischen Massenmörder Hannibal Lecter, die 2007 mit "Hannibal Rising – Wie alles begann" schlussendlich zur Quadrilogie ausgeweitet wurde. In dieser nimmt sich Harris eines der ältesten Grundgerüste der Krimi/Thriller-Literatur an, nämlich dem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, dem ewigen Kampf zwischen den örtlichen Polizeibehörden und einem psychopathischen Serienkiller, der dem Arm des Gesetzes immer einen Schritt voraus zu sein scheint. So auch in "Roter Drache", nur heißt es hier: Will Graham, ein Sonderermittler, der auch entsprechend mit sonderbaren, weil schwer verständlichen, aber erfolgreichen Methoden ermittelt, gegen die sogenannte "Zahnfee" - in einigen Buchauflagen auch ganz gern mal die "Zahnschwuchtel" genannt, was sich jedoch als grober Übersetzungsfehler entpuppt. Jedenfalls löscht dieser mysteriöse, offensichtlich geistesgestörte Killer ganze Familien bei Vollmond aus, hat zudem eine eigenartige Affinität zu Frauen – er reflektiert sich mit diesen -, ist darüber hinaus in seinem Wesen einsam, verlassen und gar scheu. Und doch erscheint dieser mit einer Hasenschorte gezeichnete Francis Dolarhyde (Mister D.) menschlich, liebenswürdig, zärtlich und freundlich im Alltag/an seiner Arbeitsstelle, der niemandem etwas zu Leide tun will und abgesehen davon auch nicht gerade danach aussieht. Nur ein für ihn ganz besonderes, weil beinah heiliges Bild, ferner ein Aquarell von William Blake ("Der große rote Drache und die Frau, mit der Sonne bekleidet"), zwingt ihn zu dieser Aggressivität, zu diesen abscheulichen Morden, indem das Bild den Platz seiner geliebten, aber verstorbenen Großmutter einnimmt und ihn von innen heraus weiter psychisch foltert. Erst mit dem Auftauchen eines blinden Mädchens und der damit aufkeimenden Freundschaft, mehr noch: Liebe, beginnt Dolarhyde nachzudenken, über sein Ich, über den roten Drachen, wie er ihn denn nun endlich besiegen kann und über eine Lösung seiner starken inneren Konflikte. Genauer: Seine Persönlichkeit wandelt sich, er transformiert sich quasi.

Thomas Harris entwirft mit eben diesem seelisch zerstörten jungen Mann ein unglaublich dichtes, ausgereiftes und beklemmend geschriebenes Psychogramm einer entfesselten, bizzaren Existenz, einer ideologisierten Amoralität in Person, welches bei seinen bestialischen Morden wie ein unberechenbares Monster agiert. Auch Dolarhydes Vergangenheit kommt in "Roter Drache" zum nicht unwesentlichen Ausdruck. In eindringlichen Rückblenden wird von seiner schwierigen Kindheit berichtet, von den endlosen Unterdrückungen, Demütigungen und sadistischen "Spielchen" seiner Großmutter, die ihn über die Jahre hinweg geprägt haben, die ihn vom verschüchterten Jungen zum energischen und dominanten Mörder avancierten. Schnell entwickelt sich dieser abgründige, deformierte Geist zur Schlüsselfigur des Romans. Dabei bleibt Harris´ Schreibstil durchgehend präzise, sprachlich ungemein elegant, unter Umständen sogar schauerlich und ohne Zweifel unkompliziert, aber auch vor allem spannend. Ja, "Roter Drache" ist spannend. Spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Clever konstruiert der Autor den Plot, intelligent vermischt er in dem Zusammenhang die raffinierte Parallelmontage, wechselt demzufolge die Erzählperspektive zwischen Ermittler und Killer. Detailreich skizziert er verschiedenste Tatorte in gelegentlich sogar surrealer Atmosphäre und beleuchtet die langwierige, akribische Ermittlungsarbeit in fesselndem, aufrichtigem, ja, wendungsreichem Sujet, welches die Story immer wieder in neuem Licht erscheinen lässt, nur um am Ende mit einem Paukenschlag den Roman abzuschließen und den Leser mit einer Art Karikatur eines herkömmlichen Happy Ends, somit also mit einem nachdenklichen Gefühl im Magenbereich zurückzulassen.

Umso bedauerlicher ist im Gegenzug dann aber die Tatsache, dass die eigentliche Assoziation der Romane – Hannibal Lecter – zur Randfigur degradiert wird und nicht wirklich Etwas für den aktuellen Fall beiträgt. Er taucht in ein, zwei kurzen Passagen auf, wird von Harris in der Summe aber sehr zum Leidwesen der Handlung vernachlässigt. Klar ist sein erster Dialog mit Will Graham, einem desillusionierten "Profiler", der Lecter höchstpersönlich hinter Gitter brachte und davon schwere Narben durch etwaige Verletzungen als Mahl davongetragen hat, nur um später erkennen zu müssen, dass er das helle Gegenstück zur gejagden "Zahnfee" darstellt, einer der Höhepunkte des Romanes. Trotzdem hätte es schon ein wenig mehr von solch großartigen Momenten zwischen diesen völlig ungleichen Individuen geben sollen. Sogesehen ist der hoch intelligente und extrem scharfsinnige Kanibale - "Hannibal, der Kannibale", wie die Presse ihn anpreist – eher eine Art Randnotiz mit nur gering ausgearbeiteten Konturen, die leider viel zu schnell abgefrühstückt wird, als dass sie im Gedächtnis des Lesers fest verankert bleiben könnte.

Fazit:

"Roter Drache" ist zusammengefasst ein perfektes Beispiel für einen beinah perfekten, mitreißenden Psycho-Thriller eines Autoren, der sein Handwerk rigoros versteht und auf brillante Art und Weise hinter die Fassade eines labilen Serienmörders schaut. Ausgestattet mit einer ordentlichen Portion Suspense, einem nicht zu leugnenden Maß an Brutalität, die sich vor allem im Kopf des Zuschauers manifestiert, und einem Quäntchen Komplexität unter den greifbaren Figuren, schildert Thomas Harris den Werdegang und die Ermittlungsarbeit eines Triebtäters in aufrichtiger Sprache, wie es fesselnder nicht sein könnte. Ein Kampf, der weit über die handelsüblichen Gut gegen Böse-Konfrontationen hinausgeht. Kurzum: In seiner psychologischen, in seiner kriminalistischen, aber auch in seiner forensischen Dimension ist dieses Stück filigrane Thriller-Kunst, welches mehr und mehr jedoch einer Charakterstudie gleichkommt, all jenen Freunden des Genres zu empfehlen, die noch nicht in Erfahrung bringen konnten, wie eng eigentlich Genie und Wahnsinn miteinander verknüpft sind.

8,5/10