Inwieweit historische Wirklichkeit gänzlich abbildbar ist, darf als Frage angesehen werden, die von den unterschiedlichsten geschichtsträchtigen Verortungen auf der Leinwand stets aufs Neue beantwortet wird. "Der junge Karl Marx" stellt sich dieser Frage, indem dieser Film gerade nicht abbildet, sondern interpretiert, fragmentiert. Lediglich ein gezieltes Namedropping um Materialismus, Proletarierversammlungen und den Verlockungen einer klassenlosen Gesellschaft bleibt bestehen. Wie es der Titel allerdings will, sehen wir einen jungen Karl Marx (August Diehl) und einen nicht minder engagierten Friedrich Engels (Stefan Konarske) beim Saufen, Grübeln, Debattieren. Raoul Pecks Blickwinkel auf diese beiden Idealisten ist folglich ein leicht idealisierter: Dem geistig Tumben den Kampf ansagend, entfachen Schauspieler wie Regisseur einen familiären Revolutionsgeist, den Bob Dylan in die Gegenwart trägt. Umgeben von Willkür, Machtstrukturen und schwelenden ökonomischen Ungleichgewichten, zeichnet Peck das Bild einer persönlichen Berufung – sowie einer auf Anerkennung fußenden Freundschaft, die über gemütlich abgelesene Lehrfilmdogmatik hinauswächst. Für beachtliche Geschlechtsneutralität sorgt vor allem Marx' Frau Jenny (Vicky Krieps), die Anstöße, Einwände, Querverweise liefert, und damit jener Geschichte ausweicht, die sie, an der Seite des schillernden Karl Marx, regelmäßig zu untergraben versucht. Teilweise ist Pecks doppeltes Biopic allerdings eine Spur zu abgeklärt darin, innerhalb weniger Minuten im Disput sogleich die fortdauernd schlagfertigsten Thesen zu preisen.
6 | 10