Donnerstag, 19. Juli 2012

"An American Crime" [USA 2007]


Es liegt ein generelles Missverständnis der "Saw"-Regisseure und jedweder anderen Gruppierung vor, wenn sie denken, Angst lasse sich aus Unmengen an Blut destillieren und psysischer Schock aus physischen Gewaltexzessen. "An American Crime" ist schlauer, packt das Publikum dort, wo es am empfindlichsten reagiert: der nachgestellten Realität, der Suggestionskraft, manipuliertes, subtiles Kopfkino, das, was man sich in Gedanken zusammeninszeniert, ohne dass der Regisseur die ausformulierte Skizze auf den Tisch knallt. Das ist schwieriger und herausfordernder, aber wirkungsvoller, vielleicht auch ein bisschen sadistischer im Umgang mit dem Zuschauer. Mancherorts ist "An American Crime" tatsächlich unerträglich, unerträglich böse, unerträglich schmerzvoll, vor allem da es sich um eine wahre Geschichte handelt, zum Wegschauen, aber dann wieder zum Hinschauen, weil man hinschauen muss, zum Hinschauen gezwungen wird, weil das Ausmaß und die Unerklärlichkeit fesseln. Was die kleine Sylvia Likens (wimmernd: Ellen Page) im Keller ihrer neuen Übergangsmutter Gertrude (abgewirtschaftet: Catherine Keener) erlebt, ist das grauenerregende Resultat dessen, mit eigenen Problemen nicht fertig zu werden. Tommy O'Haver blickt hinter verschlossene Familientüren gleich hinter dem Gartenzaun, und was er dort findet, ist Kinderzüchtigung, Autorität, Regressivität, Konsequenz, bis zum Wahnsinn, definitiv pathologisch. 

Ein höchst ökonomisches Traktat psychologischer Gruppenprozesse mit keiner Geste zu wenig, zum Ende hin leicht deplazierten Suspense-Momenten (aber das ist zu verschmerzen), unprätentiös gespielt und bemerkenswerter Figurenzeichnung; ebenso sensibel wie stilbewusst verknüpft O'Haver zwei Erzählstränge: Parallel erzählt er das Martyrium aus den Augen des Opfers aus der Vergangenheit mit der Gerichtsverhandlung aus der Gegenwart. Die brennende Frage des Staatsanwalts stellt er erst am Schluss: Warum? Warum erst so spät Hilfe gerufen? Warum mitgemacht? Weiß nicht, keine Ahnung. Keine zufriedenstellende Antwort außer Plattitüden, von keinem, aus einer Laune heraus, möglicherweise. Der Film lässt den Zuschauer allein, er ist keinesfalls bereit Antworten zu liefern, weil er sie wohl selbst nicht kennt, rational nicht erklärbar, die unerklärlichsten Geschichten schreibt wohl immer noch das Leben, nicht Hollywood. Wenn sich die vermeintlich Mächten an den Ohnmächtigen vergreifen und die Nachbarn zu wegschauenden Mittätern, die Jugend zu spaßsüchtigen Tatbeteiligten werden, ist das niederschmetternder als jeder künstlich erzeugte Horror vom Fließband, es ist real. O'Haver erlaubt sich zum Schluss eine grandiose Montage: In dem glückseligen Glauben, dass Sylvia lebt, entwickelt sich daraus die schonungslose Erkentniss, dass Sylvia ihren Verletzungen erlag. Das ist blankes Entsetzen, reiner Horror mit einer Kamera und ohne Gedärm. Andere werden dies nie verstehen. 

7 | 10