Sonntag, 6. Juni 2010

Literatur: "Middlesex" [Jeffrey Eugenides, 2002]



Story

Alles beginnt in einem kleinasiatischen Dorf, wo zwei junge Geschwister vor den Türken nach Smyrna fliehen, um den Grausamkeiten des Krieges zu entkommen. Als der Krieg seine Spuren auch in Smyrna hinterlässt und die Stadt als brennenden Schutthaufen verwandelt, beschließen die beiden nach Amerika auszuwandern. Auf einem Schiff heiraten sie, lassen sich in der aufkommenden Autostadt Detroit nieder – und bekommen Kinder. Darunter einen Hermaphroditen mit seltenen genetischen Veranlagungen, der zwar als Mädchen aufwächst, sich aber schnell zum männlichen Geschlecht hingezogen fühlt…

Kritik

"Middlesex", Gewinner des renommierten Pulitzer-Preises 2003, ist ein ausschweifendes Werk. Sein Schöpfer dagegen nicht unbedingt weltbekannt, das gewiss nicht, aber talentiert im Fabulieren einer Geschichte von den großen, kleinen, manchmal unbedeutenden, manchmal umso universelleren Wirrungen und Ängsten des Lebens, die prägen oder geprägt werden. "Middlesex" ist blumige Prosa, weil Jeffrey Eugenides blumig, bildgewaltig, vor allem jedoch pointiert schreibt und die rhetorischen Facetten des postmodernen Geschichtenerzählens virtuos beherrscht. Ob zahlreicher Haupt- und Nebenlinien, Randbemerkungen und –beobachtungen, Momentaufnahmen sowie Anekdoten dieses Buches fällt es schwer, "Middlesex" zu kategorisieren, respektive in ein Genre zu transferieren. "Middlesex" will vieles sein.

Und "Middlesex" ist vieles. Euphemistisch ausgedrückt: Eugenides stampft und wütet durch ein heillos redundantes Rezept illustrer Zutaten, kocht sie zu einem literarischen Hauptgericht, das mit überbordender Phantasie (der Redundanz wegen aber auch mit viel Kalorien) kredenzt wird. Irgendwo ist "Middlesex" wissenschaftlich-genetischer Exkurs, irgendwann Determinationsstudie, dann Familienchronik, ein bisschen Liebesgeschichte, ein bisschen Sightseeing-Tour durch Griechenland, Detroit, San Fransisco, in "Middlesex" prallt kulturelle auf sexuelle Identität, Entfremdung auf Immigration, Zeitgeist der 70er Jahre auf antike Mythologie, um im nächsten Augenblick zum Kaleidoskop historischer Katastrophen und amerikanischer Geschichte auszuholen. Anstrengend? Ja, der Leser wird gefordert. Auf die Frage, was "Middlesex" nun genau verkörpert, ist er allerdings dennoch nicht imstande zu antworten. Vielleicht so: alles.

Im Zentrum der sich mehrere Jahrzehnte erstreckenden Geschichte, die vielmehr mit einem komplexen Generationenporträt kokettiert, manifest sich der ungleiche, hier beachtlicher Weise vollkommen unkonventionellere Kampf zwischen Mann und Frau, nur dass sich diesmal nicht Mann und Frau gegenüberstehen, sondern die Frau im Mann verankert ist. Oder andersherum. Je nachdem. Eugenides nimmt den Leser bei der Hand und nimmt ihn mit auf eine Odyssee zu amerikanischen Träumen und Alpträumen, aus den Augen eines naiv-unschuldigen und angesichts seines seltenen rezessiven 5-Alpha-Reduktase-Chromosoms gleichermaßen medizinisch einzigartigen Intersexuellen, der als Mädchen aufgewachsen ist - ironischerweise in der Middlesex-Straße - zum Jungen "überwechselt" und als Mann schlussendlich durchs Erwachsenenleben stolpert.

Jener geschlechtlich nicht explizit determinierte Hermaphrodit also, nach eigenem Bekunden "zweimal geboren" (S. 11), mit dem der Leser ihn bei seinen ersten sexuellen Erfahrungen beobachtet, beim Heranwachsen, beim ersten Kuss ("Mein Herz, diese Amphibie, bewegte sich in jenem Augenblick zwischen zwei Elementen: hier Erregung, da Furcht." - S. 370), beim Bewältigen schwieriger pubertärer und geschlechtlicher Prozesse; Eugenides taucht tief in die Welt einer einsamen Seele ein, bündelt darin sämtliche Emotionen und evoziert sämtliche Gefühle. Mit Hilfe elegant ausformuliertem Wortzauber, fundierter Recherche, allegorischer Sprache und realistischen Dialogen muss der Leser mit Cal/Calliope leiden, besonders wenn es heißt, anders zu sein als alle anderen und gleichzeitig die Scham zu ertragen, die flachen Brüste zu akzeptieren, der Verwirrung Einhalt zu gebieten, die Abnormitäten vergessen zu lassen, was in Umkleidekabinen vor den Augen ihrer Klassenkameradinnen regelmäßig kulminiert.

"Middlesex" gliedert sich in drei größere, qualitativ weitestgehend auf konstanter Linie anzusiedelnde Akte, wird nicht linear, sondern ineinander geschachtelt erzählt, mal werden ganze Ereignisse mit wenigen Sätzen zusammengefasst, mal bestimmte Details in ausufernder Genauigkeit analysiert; in Form eines auktorialen Erzählers aus Berlin-Schöneberg des Jahres 2001, der geradezu selbstreflexiv zum Leser spricht, darüber berichtet, sich in die Köpfe der Menschen hineinzuversetzen, seinen Weg von der befruchteten Eizelle bis hin zum Angestellten im Verteidigungsministerium zeichnet, seine genetische Veranlagung mit familiärer Vorgeschichte erklärt und dabei stets die unglaublichsten Dinge erlebt. Das Bemerkenswerte daran: Es ist Cal als Mann und Erzähler, der sich wiederum in Calliope hineinversetzt, seinem weiblichen Pendant, und oszilliert unbekümmert zwischen beiden hin- und her, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, mehr noch, zwischen zwei fundamentalen (Geschlechts-)Welten.

Während Eugenides die Flucht Cals inzestuöse Großeltern Desdemona und Lefty vom kriegszerrütteten Smyrna der Jahre 1919-1922 in die multikulturelle USA in den ersten Akt implementiert, das Ganze brutal illustriert und häufig in Parallelmontagen stilisiert, thematisiert der zweite Cals Eltern, Cousin wie Cousine Milton und Tessy als Aufstiegsfamilie in die obere Mittelklasse, Milton als anfänglicher Whiskey-Schmuggler, Mitarbeiter bei Ford, dann stolzer Hotdog-Verkäufer, Tessy als fanatische Anhängerin einer ominösen Sekte, um letztendlich mit Calliopes Kindheit, ihrem Besuch bei Dr. Luce (wo Eugenides mit medizinischer Fachsprache glänzt) und endgültiger Transformation abzuschließen, wodurch die Brücke zu des Erzählers gegenwärtiger Situation geschlagen wird.

John Irving, Luis Buñuel: Jeffrey Eugenides hat seine Vorbilder, hat leidenschaftlich den Irving gelesen und den Buñuel geschaut. Zumindest erweckt es den Eindruck, wenn der Schriftsteller ihnen sensationelle Einzelszenen im Verlaufe der Handlung widmet. Sein Ton ist sarkastisch – wie Irvings Ton. Seine Figuren ein Mikrokosmus an schrulligen, exzentrischen, aber durchweg liebenswürdigen Persönlichkeiten. Es tummeln sich Prostituierte, Lesben, Dealer - wie bei Irving. Sein Augenmerk liegt weniger auf unspektakulär-trockenen denn spektakulär-prallen Lebenszufällen, verrückt und wild werden darin alltägliche Situationen bis ins Groteske hinein überzogen – Irving grüßt freundlich.

Eugenides interessiert das Skurrile (Geschlechterbestimmung anhand eines Silberlöffels beispielsweise), selbst seine Teilüberschriften muten skurril an – "Middlesex" erweckt dauerhafte Irving-Assoziationen. Im Gegenzug frönt er Luis Buñuel mit einem längeren Abschnitt, einem in der Tat besten, melancholischsten Kapitel, als Calliope ihre erste große Liebe kennen lernt, und mit ihr ihren Körper, Sex, Lust und Leidenschaft – "Zeit spielte keine Rolle mehr. Irgendwie waren wir uns noch immer nicht ganz dessen bewusst, was wir da taten. Empfinden ging unmittelbar in Vergessen auf" (S. 544). Eugenides nennt Calliopes Freundin fortan "das Objekt", für Calliope ist sie mehr, da sie ist "das obskure Objekt" und verdichtet somit einen Teil eines Filmtitels von Buñuel zur surrealen Person, deren Motive lange im Dunkeln bleiben. Wenn sich die Beziehung der beiden Mädchen ihrem Ende neigt und es heißt: "Schließlich kam der unausweichliche Augenblick. Das Objekt ließ los. Meine Hand flog auf, frei, leer." (S. 550), dann entpuppt sich "Middlesex" trotz aller tragischen Nuancen als zutiefst humanistische Ode an die Kraft der Freundschaft, die so verletzlich wie eine tiefe Wunde ist.

Im Kern mag das Buch tatsächlich die Geschichte eines Außenseiters und seiner Familie erzählen. Doch im Hintergrund benutzt Eugenides diese Handlung, um gleichzeitig die bedeutendsten politischen, soziokulturellen und amerikanischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts als historischen Bilderbogen zu tangieren. Der Leser wird mit dem Boom aufkeimender Autoindustrie und dessen fragwürdiger Arbeitsmoral konfrontiert, mit Rassismus (wenn Calliope ihrem Vater nach auf eine Schule gehen soll, an der keine Schwarzen lernen), mit der Prohibition und den damit verbundenen zwielichtigen Gestalten, der Ära Nixon und dem Trauma Vietnam, dem Trauma Korea, Zweiter Weltkrieg, der drogenverseuchten Hippie-Zeit, man lernt Einiges über Raumfahrt und Weltwirtschaftskrise, ebenso wie über griechisches Essen – es ist ein überschäumendes Drumherum als dramaturgischer Mantel, bisweilen etwas zu überambitioniert und überfrachtet, stellenweise etwas zu exzessiv beleuchtet (Kirchenszenen,) aber mit allerhand Fakten angereichert. Fiktives Romanschreiben als eine Oase des Wissens. Oder so ähnlich.

Bei aller Lobhudelei möchte man dem Buch konsequenterweise das Prädikat Meisterwerk attestieren. Man möchte, aber man kann nicht. Leider. Obwohl: Welches Buch ist perfekt? Genau, die wenigsten. Dieses hier auch. Leider. "Middlesex" ist epochales Lesevergnügen, bei dem sich nach näherem Nachdenken nichtsdestotrotz Ernüchterung herauskristallisiert und epochales in ambivalentes Lesevergnügen umschlägt. In erster Linie fragt man sich dauerhaft, wie es Calliope schaffen konnte, ihre Zweigeschlechtlichkeit 14 Jahre lang vor den Eltern zu verbergen. Man fragt sich des Weiteren, warum ihr Bruder ausgerechnet Pleitegeier heißt. Eugenides bleibt an dieser Stelle völlig oberflächlich.

Die Operation, aus Calliope wieder einen sexuell "normalen" Menschen zu erschaffen, bleibt ebenfalls nebulös, weil ungewöhnlich kurz abgehakt. Calliope denkt darüber nach, lehnt ab, flüchtet vor dem Arzt, vor dem Eingriff. Fertig. Eine spätere Auseinandersetzung findet nicht statt. Das ist paradox, da sie sich doch auch um die unwichtigeren Dinge unnötige Gedanken gemacht hatte. Hinzu kommt Eugenides' tendenziell dickes Auftragen auf den letzten Seiten. Da er sich lediglich für die merkwürdigen Momente des Lebens begeistert, übertreibt er es hin und wieder mit überflüssigen Merkwürdigkeiten, allen voran jener Tod von Milton, der nach einer Verfolgungsjagd und anschließendem Unfall sein ganzes Leben vor sich vorbeiziehen sieht, von einer deplatzierten Freakshow im Pool ganz zu schweigen. Eugenides wäre besser dran gewesen, hätte er spezielle Passagen entweder gleich weggelassen oder stark verkürzt, sodass eine narrative Straffung zur Vorbeugung ermüdender Längen folgerichtig wäre.

Fazit

Es bleibt offen, ob der Roman die Frage aufwirft, "ob der Mensch stärker durch seine vererbten Gene oder durch seine Erziehung geprägt wird" (Wikipedia) oder die Frage nach "Milieu und Vererbung, das Problem von Natur und Geschichte, von Zufall und Notwendigkeit" (Süddeutsche Zeitung vom 07.05.2003) aufgreift. In Anbetracht folgender Zeilen lässt sich gleichwohl noch etwas anderes hineininterpretieren: "Hermaphroditen hat's schon immer gegeben, Cal. Platon sagte, der erste Mensch war ein Hermaphrodit. Hast du das gewusst? Der erste Mensch bestand aus zwei Hälften, eine männlich, eine weiblich. Dann wurden sie getrennt. Deshalb sucht auch jeder nach seiner anderen Hälfte. Nur wir nicht. Wir haben schon beide." (S. 679) Dass es ein wahres Geschlecht, eine wahre sexuelle Orientierung nicht gibt, nicht geben kann – das ist Eugenides' wohl wahrhaftigste Erkenntnis.

8,5/10